
Foto: Linda Gschwentner/Bavaria Fiction
Foto: Linda Gschwentner/Bavaria Fiction
Emanuel Rotstein ist Head of Documentaries bei ICON DOCS, der neuen Doku-Brand der Bavaria Fiction. Entstehen sollen dort State-of-the-Art-Projekte mit unverwechselbarer Handschrift. Wir sprachen mit dem Producer und Filmemacher über seine filmische Vision, die Situation auf dem Doku-Markt sowie über aktuelle Projekte der ICON DOCS.
Emanuel, du bist seit 2022 Head of Documentaries bei Bavaria Fiction, die mit ICON DOCS nun eine eigene Marke erhält. Was macht die Aufgabe für dich reizvoll?
Emanuel Rotstein: Mit Dokumentationen ein neues Geschäftsfeld innerhalb einer etablierten Produktionsfirma aufzubauen. Denn jeder in der Branche kennt die Bavaria, es ist ein Türöffner. Die Herausforderung besteht jetzt darin, die Stabilität und den Erfahrungsreichtum des Unternehmens mit den Arbeitsabläufen von nonfiktionalem Erzählen zusammenzubringen.
Und das funktioniert bisher? Welche deiner persönlichen Erfahrungen konntest du einbringen?
Emanuel: Das funktioniert sehr gut, da zwei Erfahrungshorizonte aufeinandertreffen. Nach elf Jahren beim History Channel liegt mir die amerikanische Erzählweise, die menschliche Schicksale in den Vordergrund stellt und dadurch emotional berühren will, sehr nahe. Als ich dort die Eigenproduktionen aufgebaut habe, lag mein Fokus auf lokalen Geschichten mit regionaler Relevanz, um aus ihnen dann wiederum Storys zu formen, die global funktionieren. Mit diesem Anspruch bin ich zur Bavaria gekommen: Ich möchte aus München heraus Geschichten erzählen, die über die Landesgrenzen von Deutschland hinaus Menschen bewegen. Geschichten mit gesellschaftlicher Relevanz, die die Hintergründe einer komplexen Welt erklären, über Missstände aufklären und tiefgehende historische, wissenschaftliche oder kulturelle Kenntnisse vermitteln.
Ihr blickt bei der Doku-Unit nun auf einen noch überschaubaren Zeitraum seit Ende März 2022 zurück. Welche Prozesse konntet ihr in der Zeit bereits anstoßen?
Emanuel: Wir haben bereits zwei große Projekte finalisiert. Zum einen unsere True-Crime-Doku „Der Parkhausmord – Wer tötete Charlotte Böhringer?“ für Sky, die die Geschichte von Benedikt Toth erzählt. Benedikt Toth ist der Neffe der Millionärin und Inhaberin des Münchner Isarparkhauses, Charlotte Böhringer, die 2006 brutal ermordet wurde. Obwohl die Indizien, Motive und Beweislage umstritten waren, wurde Toth zu lebenslanger Haft mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt. Er saß 17 Jahre im Gefängnis und kam vorzeitig im April vergangenen Jahres auf Bewährung frei. Wir haben ihn exklusiv mit der Kamera begleitet und zeichnen einerseits den Lebensweg dieses Menschen nach und nehmen andererseits ein Urteil unter die Lupe, das bis heute umstritten ist.
Und das zweite Projekt?
Emanuel: Für 3sat und das ZDF konnten wir die Geschichte eines jungen Mannes, Akiva Weingarten, erzählen, der seine ultraorthodoxe Herkunft für den Wunsch nach Freiheit hinter sich gelassen hat. Und der bis heute um seine Kinder kämpft. Beides sind Stoffe, in denen es um die zentralen Elemente des Menschseins geht: Freiheit, Selbstverwirklichung und um Fragen der Gerechtigkeit. Das sind die großen Themen, die uns ansprechen, die Menschen zum Nachdenken anregen und inspirieren und die vermeintlich Bekanntes um entscheidende Aspekte erweitern.
Welche Stoffe sind besonders geeignet, um zu einem ICON DOCS-Thema zu werden?
Emanuel: Große, ikonographische Stoffe, die uns als Gesellschaft wichtig sind und zudem die großen Fragen der Menschheit behandeln: Wer bin ich? Wo komme ich her? Was macht mich als Mensch aus? Es sind die menschlichen Abgründe, die faszinierend sind, genauso wie inspirierende Erfolgsgeschichten, die ein großes Publikum ansprechen. Sie zeigen allesamt, dass wir mehr gemeinsam haben als uns trennt.
Wie stellt sich aus deiner Sicht die aktuelle Marktsituation im Doku-Segment dar?
Emanuel: Aktuell konsolidiert sich der Markt. Als die Streamer vor einigen Jahren zum Marktgeschehen dazugestoßen sind, wurde die nonfiktionale Branche extrem aufgeblasen. Einerseits durch die schiere Menge der Produktionen, die beauftragt wurden, aber auch durch die Budgets, die plötzlich auf dem Markt verfügbar waren und von den Streamern bereitgestellt wurden, um Kund:innen für exklusive und hochwertige Inhalte zu begeistern. Es herrschte eine Goldgräberstimmung. Und viele Produzent:innen, die eigentlich nicht aus dem dokumentarischen Erzählen kommen, begannen in diesem Feld mitzuspielen. Jetzt, in Zeiten klammer Kassen, ziehen sich einige wieder aus dem Markt zurück. Meines Erachtens bleiben mittelfristig die klassischen Dokumentarfilmproduzenten übrig.
Welche Rolle spielt das Thema KI bei euch in den einzelnen Produktionsschritten?
Emanuel: Ich benutze KI schon seit einiger Zeit, etwa beim Transkribieren von Interviews. Das ist natürlich eine Erleichterung des Arbeitsaufwandes. Jedoch ersetzt KI nicht das menschliche Gehör und Gehirn, zumindest nicht in der Arbeit, wie ich sie kenne. Die Auseinandersetzung mit Texten wird ohne Frage vereinfacht. Aber Geschichten entstehen nicht durch künstliche Intelligenz. Das Zusammenführen von Ideen, Konzepten und den großen Fragen der Menschheit liegt bei uns. Das Neugeschaffene liegt – zumindest noch – in menschlicher Hand.
Die beiden großen Dokumentarfilmfestivals Dok Leipzig und das Dok.fest München erfreuen sich seit Jahren einer wachsenden Beliebtheit bei Besucher:innen, auch im Streaming werden Dokumentarfilme immer gefragter. Woher kommt aus deiner Sicht der Trend zum Dokumentarischen?
Emanuel: Das Dokumentarische war immer interessant. Nur war es bisher – vor dem Markteintritt der Streamer und dem Start der Mediatheken – auf Randsendeplätze verbannt. Warum sich Menschen für Dokumentarfilme interessieren? Nun, das liegt an der grundlegenden Faszination für Wahrheit.
Ist der deutsche Markt gerade besonders Doku-affin?
Emanuel: Er ist „dokumentargelernt“. Das liegt an der Stärke des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, das von Beginn an dokumentarische Formate gefördert hat. Wir haben den großen Vorteil, dass dokumentarisches Erzählen gebührenfinanziert möglich ist. Viele Formate müssen sich nicht den strengen Gesetzmäßigkeiten des Marktes anpassen, da sie dem Bildungsauftrag dienen. Der große Nachteil der deutschen Dokumentarfilmszene ist, dass wir auf Deutsch produzieren. Auf dem weltweiten Markt ist das eine Einschränkung. Da haben es unsere Kolleg:innen aus Großbritannien, USA und Kanada viel leichter.
Du bist als Produzent tätig, hast aber immer schon Dokumentarfilme als Regisseur gedreht. Darunter Arbeiten wie „Der Elfte Tag – Die Überlebenden von München 1972“, „Die Befreier“ und zuletzt „Ultraorthodox – Der Kampf des Rabbi Akiva“. Wirst du im Rahmen deiner Tätigkeit bei ICON DOCS weiter an eigenen Stoffen arbeiten?
Emanuel: Ja. Einerseits arbeite ich an eigenen Stoffen und andererseits akquirieren wir Stoffe, die ich als Produzent oder Showrunner verantworte. Daher bin ich immer auf der Suche nach Partner:innen, die einen ähnlichen Anspruch ans Erzählen haben, um gemeinsam diese Geschichten umzusetzen.
Was ist dir bei der Handschrift deiner eigenen Filme besonders wichtig?
Emanuel: Die Handschrift besteht in meiner Beziehung zu den Protagonist:innen. Es ist ein sehr enges Verhältnis, das auf gegenseitigem Vertrauen basiert. Ich baue eine extrem enge Beziehung zu meinen Gesprächspartner:innen auf. Menschen vertrauen mir ihre Geschichten an. Ich weiß, welche Verantwortung ich dabei besitze. Sie geht weit über den Film hinaus.
Bereits zweimal haben dich eigene historische Stoffe nach München und nach Dachau geführt. Was verbindet dich mit der Region? Und wirst du dich weiter filmisch damit beschäftigen?
Emanuel: Wenn du als deutscher Jude wie ich in München aufwächst, gibt es zwei Ereignisse, an denen du nicht vorbeikommst. Das sind zum einen der Holocaust und die Rolle Münchens im Nationalsozialismus und zum anderen die Olympischen Spiele 1972. Mit diesen beiden Themen habe ich mich schon als Heranwachsender auseinandergesetzt und habe sie dann auch als Teil meiner professionellen Arbeit verstanden. Und natürlich fühle ich mich als Jude und als Deutscher verpflichtet, mich unserer Geschichte zu stellen. Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Einerseits das jüdische, mit dem ich auf der Seite der Opfer stehe, aber auch das deutsche Herz, mit dem ich als deutscher Staatsbürger und Demokrat die Verantwortung habe, Geschichte greifbar zu machen und das Erlebte für nachfolgende Generationen verständlich zu machen.
Welche Rolle spielt das Geschehen vom 7. Oktober für deine eigene Arbeit und werden die Ereignisse auch ICON DOCS beschäftigen?
Emanuel: Wir arbeiten aktuell an einem Projekt namens „Black Saturday – Die Überlebenden vom 7. Oktober“, das aus der Perspektive von zehn überlebenden Jugendlichen die Geschichte des 7. Oktober und des Nova Massakers erzählt. Ihre Erlebnisse wurden kurz nach dem Anschlag aufgezeichnet. Es war der Wunsch dieser jungen Menschen, das Erlebte so schnell wie möglich und so roh und unvoreingenommen aufgezeichnet wissen. Wir haben diese einzigartigen Testimonials und wir haben die Nachrichten und das Videomaterial aus dem Bunker, in dem sie sich versteckt haben. Das ist außergewöhnlich, bedarf aber einer sehr vorsichtigen, bewussten und sensiblen Auseinandersetzung mit dem Thema. Bislang haben wir noch keinen Senderzuschlag, sind aber in Gesprächen. Wir planen eine Ausstrahlung zum ersten Jahrestag.
Welche weiteren Projekte stehen bei euch neben „Black Saturday“ demnächst an?
Emanuel: Wir haben zwei spannende Projekte, auf die ich sehr stolz bin. Eines erzählt die Geschichte des Produzenten und Hollywood-Agenten Paul Kohner, an den sich viele deutschsprachige Künstler:innen wandten, damit er ihnen zum Exil verhilft. Unser zweites großes Thema erzählt die Geschichte des Anti-WAAhnsinns-Festivals von Wackersdorf, wo 1986, kurz nach dem Gau von Tschernobyl, das größte deutsche Musikfestival seinerzeit stattfand, das auch als deutsches Woodstock bezeichnet wurde.
Welche Rolle spielt für euch als Unternehmen Bayern als Produktionsstandort?
Emanuel: München mit seiner zentralen Lage in Europa und einer sehr gut ausgestatteten Produktionslandschaft bietet alles, was Produzierende benötigen. Es gibt ein großes Know-how in den technischen, kreativen und produzierenden Bereichen. Die politischen Rahmenbedingungen sind sowohl dem nonfiktionalen als auch dem fiktionalen Erzählen spürbar positiv gegenüber eingestellt. Auch die Ausbildungsmöglichkeiten sind dank HFF, BAF, SAE und weiterer Privatunternehmen hervorragend. Und mit ProSiebenSat.1, Disney+, Amazon und Sky sind wichtige Auftraggeber am Standort vertreten.
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