Vorhang auf für VR

Als erstes deut­sches Theater hat das Staats­theater Augsburg eine Stelle für Digitale Ent­wick­lung ge­schaffen. Seit Herbst 2020 führt Tina Lorenz die Zuschauer:innen in den virtuellen Raum. Ihre Hilfs­mittel: VR-Brille, Twitch und viel Experimentier­freude.

Interview: Anna Karolina Stock

Tänzer Franco Ciculi in der VR-Insze­nierung shifting_pers­pective: „Für die Künst­ler:innen bedeutet VR-Theater eine bisher unbe­kannte Art des Schauspielens. Sie sind bei der 360-Grad-Erfahrung mit der Kamera allein.“
Foto: Heimspiel GmbH

»Techniknerds und Theaterleute konnten nichts miteinander anfangen. Ich galt in beiden Welten immer als Freak.«

Foto: Julian Baumann

Frau Lorenz, notgedrungen mussten viele Kunst- und Theaterhäuser im Jahr 2020 die Digitalisierung vorantreiben. Das Staatstheater Augsburg hatte schon vorher digitale Konzepte. Warum?

Tina Lorenz: Unser Staatsintendant André Bücker ist seit Langem an der digitalen Erweiterung des Bühnenraums interessiert. Er plante bereits 2019 eine Live-Oper mit Virtual-Reality-Anteil: „Orfeo ed Euridice“ sollte ursprünglich im Mai 2020 Premiere feiern. Das Staatstheater Augsburg hatte externe Technologie-Partner, um ein solches Hybridprojekt zu realisieren, und 500 VR-Brillen parat. Als der Lockdown kam, konnten wir schnell reagieren, indem wir diese VR-Brillen an Zuschauer:innen verschickten und unser Programm zu ihnen nach Hause brachten.

Was ist das Besondere an einem Theatererlebnis mit VR-Brille?

Lorenz: Das Gefühl von Präsenz. Im Gegensatz zu einem Stream, der lediglich Ausschnitte eines Bühnenabends zeigt, taucht man mit VR-Brille komplett in eine andere Welt ein. Die Zuschauer:innen haben den Eindruck, Teil der Szene zu sein. Sie können den Schauspieler:innen auf Schritt und Tritt folgen oder die Perspektiven wechseln. Ein immersives Theatererlebnis ist unglaublich theaternah, und es verlangt Konzentration.

Orfeo ed Euridice, Fotos: Jan-Pieter Fuhr

Wieso war es notwendig, im Theater eine eigene Stelle für Digitale Entwicklung zu schaffen?

Lorenz: Nachdem sich im ersten Lockdown Mitarbeiter:innen aus den verschiedensten Abteilungen um die VR-Geschichten gekümmert haben, wurde klar, dass es künftig eine Person geben muss, die im Digitalbereich den Hut aufhat und neue Konzepte strategisch steuert. Im regulären Spielbetrieb ist das nebenbei nicht zu leisten – oder würde im Chaos enden.

Wieso sind Sie die Richtige für diesen Job?

Lorenz: Ich bin studierte Theaterwissenschaftlerin, aber erwachsen geworden bin ich im Chaos Computer Club. Viele meiner Freund:innen sind Computernerds. Bislang waren das zwei völlig getrennte Bereiche: Die Techniknerds sind nicht ins Theater gegangen und die Theaterleute konnten nichts mit der Digitalisierung anfangen. Ich galt in beiden Welten als Freak. Dabei sind sie sich sehr ähnlich, sie sprechen nur nicht die gleiche Sprache. André Bücker wusste von meiner Affinintät für digitales Theater und bot mir den Job an. Eine super Chance!

Was steht auf Ihrer To-Do-Liste ganz oben?

Lorenz: Von der Kulturstiftung des Bundes haben wir für 2021 Fördermittel bekommen, um eine Social-VR-Anwendung zu entwickeln, in der Menschen auf andere Menschen treffen. Ziel ist es, dass Zuschauer:innen VR-Theater gemeinschaftlich erleben. Aktuell hat man dank VR-Brille zwar das Gefühl, in einem virtuellen Raum präsent zu sein, allerdings ist man dort allein. Kopräsenz, also ein gemeinschaftliches Erleben mit anderen Zuschauer:innen, existiert noch nicht. Da bestehende Social-VR-Anwendungen wie Mozilla Hubs oder VR-Chat nicht die Möglichkeiten bieten, die wir bräuchten, entwickeln wir unsere eigene Social-VR-Anwendung. Wir wollen ein Theatererlebnis kreieren, das sich wie Theater anfühlt: sowohl für Schauspieler:innen als auch Zuschauer:innen.

360-Grad-Choreografie beim Ballett Boléro: „Im Gegensatz zu einem Stream, der nur Ausschnitte eines Bühnenabends zeigt, taucht man mit VR-Brille komplett in eine andere Welt ein.“ Foto: Staatstheater Augsburg

Wie unterscheidet sich die Produktion eines VR-Erlebnisses von einer normalen Filmaufnahme?

Lorenz: Nehmen wir das Beispiel einer Orchesteraufnahme: Zuschauer:innen können mit der VR-Brille später zwischen verschiedenen Positionen wählen, sich also das zweite Horn genauer anschauen oder die erste Geige. Dafür wird das Orchester mit vier 360-Grad-Kameras gefilmt, und zwar gleichzeitig. Alle Musiker:innen müssen während der gesamten Aufnahme am Platz sein, auch wenn bestimmte Stimmgruppen nicht an der Reihe sind. Normalerweise würden diese das Set verlassen, um nicht zu rascheln und den Klang zu verfälschen. Jede 360-Grad-Kamera ist eine Kugel mit vielen Linsen, deren Bilder am Ende richtig zusammengesetzt werden müssen. Es kann nicht so viel nachbearbeitet und geschnitten werden, ohne dass es einen unschönen ‚Cut‘ im Bild gibt. Bei Fehlern muss also der gesamte Take nochmal aufgenommen werden.

Welche Anforderung stellt eine immersive Aufführung an Schauspieler:innen und Regisseur:innen?

Lorenz: Für die Künstler:innen bedeutet VR-Theater eine bisher unbekannte Art des Schauspielens. Sie sind bei der 360-Grad-Erfahrung mit der Kamera allein, kein:e Regisseur:in macht im Hintergrund Anmerkungen. Das ist zunächst beängstigend. Andererseits haben die Künstler:innen die Möglichkeit, den Raum nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Und genau das macht ja Theater aus, so wie man es auch von der Bühne kennt.

Tina Lorenz studierte Theaterwissenschaft, aber „erwachsen“ geworden ist sie im Chaos Computer Club. Foto: Julian Baumann

Gibt es noch andere Digitalformate, die gut funktionieren?

Lorenz: Ja, unser Twitch-Kanal, er hat mittlerweile 670 Follower:innen. Aufgrund hoher Inzidenzwerte kam es in Augsburg bereits Ende Oktober 2020 zum Shutdown. Genau da sollte die Premiere des Tanztheaters „Winterreise“ stattfinden. Wir mussten also umdisponieren und landeten bei Twitch. Ähnlich wie Gamer, die ihre Live-Spiele nebenbei kommentieren, haben wir während des Livestreams der „Winterreise“ eine Art Watch-Party veranstaltet. Die Dramaturgin und ich haben Fragen aus dem Chat aufgegriffen und mit der Community diskutiert. Kommentare und Feedback sind hier sehr direkt und ungefiltert. Das Coole an Twitch ist, dass alles auf den Live-Moment und das gemeinschaftliche Erlebnis ausgelegt ist.

Screenshot aus Twitch von der Seifenoper W – Eine Stadt sucht eine Wohnung. Die User:innen können das Probegeschehen kommentieren. Foto: Staatstheater Augsburg/Jan-Pieter Fuhr

Nach „Winterreise“ folgte bald ein weiteres Twitch-Projekt, die Seifenoper „W – Eine Stadt sucht eine Wohnung“.

Lorenz: Wir möchten auf Twitch nicht nur fertige Aufführungen zeigen, wir experimentieren auch viel. Regisseur Nicola Bremer trug bei Theaterproben zu „W – Eine Stadt sucht eine Wohnung“ eine Helmkamera, so dass unsere Follower:innen das Geschehen aus seiner Sicht begleiten konnten. Es gab eine richtige Fangemeinde – und im Twitch-Chat viele Ideen, wie man das Stück weiterspinnen könnte.

Erreichen Sie über Twitch eine andere Art von Publikum?

Lorenz: Es ist tatsächlich bunt gemischt. Manche Twitch-User:innen stoßen zufällig dazu. Aber es gibt auch viele Theater-Abonnent:innen, die hier ihre Lieblingsschauspieler:innen sehen wollen. Auf Twitch ist aktive Teilnahme gefragt: Man kann sich virtuell mit anderen austauschen und ein ganz neues Theatererlebnis teilen.

Kritiker:innen befürchten, die Digitalisierung führe zum Niedergang der Theaterkultur. Wie sehen Sie das?

Lorenz: Technik und Theater waren schon immer miteinander verwoben. Bereits in der Antike tauchte der „Deus ex Machina“ (auf Deutsch: Gott aus der Maschine) nur mithilfe eines Seilzugs auf. Heute ist fast nichts mehr analog: Licht, Musik, Bühnenbild werden digital per Tablet gesteuert, die Zuschauer:innen bekommen es nur nicht mit. Gerade Theaterstücke mit Live-Kamera oder Projection Mapping sind ohne moderne Technologien nicht möglich. Haben diese dazu geführt, dass das Theater abgeschafft wurde oder an Qualität einbüßte? Nein. Es ist ein starkes Medium.

Orfeo ed Euridice, Foto: Jan-Pieter Fuhr

Wieso hinken (deutsche) Theater im Digitalbereich so hinterher?

Lorenz: Stadt- und Staatstheater sind sehr hierarchisch aufgebaut. Einige Intendanzen verstehen Theater immer noch als ‚analogen Fels in der digitalen Brandung‘ und wollen das Thema aussitzen. So gesehen hatte der zweite Lockdown einen positiven Effekt. Denn er hat in vielen Häusern zu der Erkenntnis geführt, dass man sich vielleicht doch mal mit der Digitalisierung befassen sollte. Es wird in den nächsten zehn Jahren zudem einen Generationenwechsel geben: Theaterintendant:innen kommen an die Spitze, die mit der digitalen Welt aufgewachsen sind. Wer heute Theaterwissenschaften studiert, hat das Thema Digitalisierung bereits im Lehrplan.

In Sachen Digitalisierung nimmt das Staatstheater Augsburg eine Vorreiterrolle ein. Geben Sie anderen Theatern Tipps?

Lorenz: Auf jeden Fall. Es freut uns, dass andere Häuser wissen wollen, wie wir mit VR arbeiten. Und es ist uns wichtig, dass wir den digitalen Wandel gemeinsam gestalten. Um Kooperationen zu erleichtern, haben wir ein Netzwerk von digitalen Theatern gegründet, die sich mit den Möglichkeiten der digitalen Raumerweiterung auseinandersetzen möchten – auch nach der Pandemie.

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