Active Fungus Studio: Münchner Entwickler setzt auf Heimatliebe

Von Nora Beyer

„A Bavarian Tale – Totgeschwiegen” wagt mit dem historischen Bayern als Schauplatz Neues in der Gaming-Branche. Foto: Active Fungus

Videospiele in die eigene Heimat versetzen und Geschichte zum Erlebnis machen: Wie das Münchner Spielestudio Active Fungus historische Rollenspiele mit regionalem Bezug zur vielversprechenden Nische machen könnte.

Blockbuster-Spiele wie „Assassin’s Creed” und „Kingdom Come: Deliverance” haben es vorgemacht: Videospiele eignen sich hervorragend als interaktive und immersive Geschichtsstunden. Nicht immer historisch akkurat, aber allemal unterhaltsam steuert man in der „Assassin’s Creed”-Reihe des französischen Publishers Ubisoft den titelgebenden Assassinen über die Dächer Venedigs des 15. Jahrhunderts, auf die Barrikaden eines revolutionserschütterten Paris im Jahre 1789 oder durch die Gassen eines Viktorianischen Londons. Man plaudert mit Leonardo Da Vinci, trifft Benjamin Franklin und plündert mit Mary Reed. Geschichte zum (digitalen) Anfassen.

Ein Rezept, das die Münchner Spieleschmiede Active Fungus schon länger fasziniert: „Wir denken, darin liegt großes Potential, Geschichte nicht als abstrakte Information, sondern direkt und zum Anfassen erlebbar zu machen”, erzählt Jakob Braun, Gründer des Studios. Denn: „Der Kern eines Rollenspiels ist es ja, in eine Welt einzutauchen und sich mit der eigenen Rolle in dieser Welt zu identifizieren.” Dazu braucht es keinen ausdrücklichen Lehr- oder Lernanspruch – im Gegenteil: „Man erfährt praktisch im Vorbeigehen viel über die Zeit und die Lebensumstände, während man eine spannende Geschichte erlebt. Da braucht man gar kein großes Geschichtsinteresse”, so Braun.

„A Bavarian Tale”: Historisches Rollenspiel in der Provinz

Sokrates, Cleopatra und Julius Cäsar – die Liste der illustren historischen Persönlichkeiten, die man in den vielen Teilen der Assassin’s Creed-Reihe trifft, ließe sich beliebig fortsetzen. Nur: Funktioniert das Rezept auch ohne diese bombastische Dimension von Historizität? Ja, das zumindest will das Münchner Studio beweisen. In seinem im Februar 2023 erschienenen Debüt „A Bavarian Tale – Totgeschwiegen” tauscht man die große weite Welt gegen ein verschlafenes Dorf in der bayerischen Provinz.

Es ist das Jahr 1886. In der Rolle eines Physikatsberichterstellers reisen die Spielenden im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums in das abgelegene Dorf Wolpertshofen zur Erhebung demographischer Daten. Und werden schnurstracks in einen Mordfall verwickelt. Ein „spielbarer Bayern-Krimi”, so die Selbstbeschreibung. Ganz im Stil des klassischen Rollenspiel-Genres: Es müssen Ressourcen gesammelt und per Mikro-Management verwaltet, Gespräche geführt, (Faust-)Kämpfe bestanden, Zeugen befragt, Spuren verfolgt und – schließlich – der Mörder gefunden werden.

Das fiktive Dorf Wolpertshofen in der bayerischen Land-Idylle des 19. Jahrhunderts ist Schauplatz des Rollenspiels „A Bavarian Tale”. © Active Fungus

Faustkämpfe gehören zum Spiel mit dazu. Mit Brezeln kann man seinen Konzentrationsbalken wieder aufladen. © Active Fungus

Auch in den dunklen Szenen des Spiels kann man die Idylle des bayerischen Hinterlands spüren. © Active Fungus

Um sich in der Spielwelt zurechtzufinden und das volle Erlebnis genießen zu können, braucht es natürlich eine authentische Karte. © Active Fungus

Spieler:innen können im Skill-Menü ihre Fähigkeiten anpassen und verbessern. © Active Fungus

Das Münchner Umland wird für Active Fungus zur Inspiration

Geschichtsaffine Spieleerzählungen wie „Assassin’s Creed” vor Augen stapelten die Entwickler bei der Konzeption erstmal hoch: „Unsere erste Idee war es, ein Spiel zu machen, das sich mit der deutschen Kolonialgeschichte beschäftigt”, so Braun. „Aber da haben wir schnell gemerkt, dass das eine Nummer zu groß für unser erstes Projekt ist.” Und so kam das Studio schließlich auf den regionalen Bezug: „Zu dem Zeitpunkt waren hauptsächlich Menschen aus München im Team. Also haben wir uns auf die Suche gemacht, welche historischen Themen im Münchner Umland ein interessantes Spielfeld für uns sein könnten.”

In ihrer Suche nach spannenden Stoffen für die Spielwelt stießen sie auf die Geschichte des Räubers Johann Pascolini – Onkel des berüchtigten und gerade von den bayerischen Bauern schon zu Lebzeiten als Volksheld gefeierten Räubers Matthias Kneißl. Die Geschichte rund um das halsbrecherische Outlaw-Leben faszinierte die Entwickler: „Das hat unser Interesse für das 19. Jahrhundert in Bayern geweckt”, erzählt Braun. Die Figur des Räubers Pascolini spielt eine zentrale Rolle im Spiel. Und wird zur Leinwand für eine so bunte wie ironisch-liebevolle Hommage an die Dorf-Urigkeit im bayerischen Hinterland. Die Menschen im Ort und den umliegenden Höfen strotzen nämlich vor Leben und die Themenvielfalt ist alles andere als idyllisch: Von Abtreibungen und Kriegs-Traumata bis hin zu Wirtshausgewalt, Schulden und Verdauungsproblemen macht das Spiel vor wenig halt.

Originell dabei ist auch die Sprachausgabe – in schon fast schmerzhaft authentischem bayerischem Dialekt. Der Umgang mit der bayerischen Kultur ist oft ironisch – etwa, wenn Brezeln gesammelt und gegessen werden müssen, um den Konzentrationsbalken des Helden wieder aufzufüllen. Rutscht aber nie ins Zynische ab. Ganz nebenbei lernt man eine Menge über bayerische Geschichte: „Der Mordfall ist fiktiv, aber die Lebensumstände der Menschen beruhen auf den Gegebenheiten der Zeit”, so Jakob Braun. „So erfährt man vieles über das Königreich Bayern, den Preußisch-Österreichischen Krieg, Bismarck, König Ludwig II. und Ferdinand Lassalle, die Industrialisierung sowie die Anfänge der Arbeiter- und Frauenbewegung.”

»Wir denken, direktes Erleben in einem solchen Spiel kann ganz anders empathische Reaktionen aktivieren, als das durch abstrakte Betrachtungen möglich ist.«

Jakob Braun / Foto: Active Fungus

Reale Themen werden in „A Bavarian Tale” spielerisch erlebbar

Das Studio hat es sich zur Aufgabe gemacht, „nicht nur zu unterhalten, sondern auch auf gesellschaftliche Themen aufmerksam zu machen”. Active Fungus ist überzeugt davon, dass Videospiele ein hervorragender Motor und Impulsgeber für gesellschaftliche Reflexionsprozesse sein können. Und gerade historische Spiele mit regionalem Bezug bieten noch einmal mehr Potenzial, weil sie die Lebenswirklichkeiten thematisieren, die vor der eigenen Haustür existier(t)en und oft bis in die Gegenwart hinein wirken.

„Wir denken, direktes Erleben in einem solchen Spiel kann ganz anders empathische Reaktionen aktivieren, als das durch abstrakte Betrachtungen möglich ist”, meint Jakob Braun. Und gibt gleich ein Beispiel: „Wenn die Spielenden in ‚A Bavarian Tale – Totgeschwiegen' die Rolle des Pfarrers untersuchen, erfahren sie, dass der Geld von der Kirche stiehlt, um damit den Sohn seiner Haushälterin zu unterstützen. Der lebt unter ärmlichen Bedingungen in München und muss für einen Hungerlohn schuften.” Der Effekt: „Man kann die Bedürfnisse und Lebenswelten der Menschen direkt erleben und somit auch emotional verstehen, warum etwa die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in diese Zeit fällt.”

Active Fungus: Weit weg von klassischen Hierarchie-Verständnissen

Auch wenn Spiele mit historischen Bezügen wie „Assassin’s Creed” oder „Kingdom Come: Deliverance” also durchaus Dauerbrenner der Spielegeschichte sind – das Münchner Studio Active Fungus leistet mit „A Bavarian Tale – Totgeschwiegen” Pionierarbeit in einem Genre, das man „Heimatspiele” nennen könnte. Aber das klingt eigentlich viel zu altbacken für den progressiven Ansatz, den das Studio fährt. Nicht nur in seinem Spiel-Debüt, sondern auch innerhalb der eigenen Struktur. Die ist nämlich ziemlich ungewöhnlich.

So besonders wie das Setting des Spiels ist auch die Struktur des Entwicklers: Komplett remote und organisiert über quasi-demokratische Strukturen rückt das Münchner Studio von klassischen Hierarchie-Verständnissen der Unternehmensführung ab. Foto: Active Fungus

„Wir versuchen, unsere Unternehmensführung so demokratisch wie möglich zu gestalten”, erklärt Braun. „Wir haben einen gewählten Gehaltsrat, der Entscheidungen über Gehälter und Boni trifft. Und wir haben einen gewählten Vorstand, der die großen Unternehmensentscheidungen trifft.” Der Arbeitsalltag ist agil gestaltet, es wird komplett remote gearbeitet, mit flachen Hierarchien und einer Servant Leadership, die auf Empathie und Wertschätzung setzt. Die Vision: „Für uns war von Anfang an klar, dass wir nicht nur Spiele produzieren, sondern auch ein Unternehmen gründen wollen, in dem wir gerne arbeiten”, so Braun. Die Arbeitsstrukturen sind im gemeinsamen Diskurs gewachsen – und wachsen konstant weiter, denn: „Dieser Prozess ist nicht einfach abgeschlossen.”

Ein Spielestudio als Unternehmen mit quasi-demokratischen Organen. Das ist mindestens so ungewöhnlich wie das urbayerische Setting, das sich Active Fungus für sein Rollenspiel-Debüt gewählt hat u. Und hat ähnlich großes Potenzial. Auf der Spieleplattform Steam schneidet „A Bavarian Tale – Totgeschwiegen” bislang sehr gut ab, die Kritiken der einschlägigen Fachmagazine und -Personen sind positiv. Es scheint, als wäre das Münchner Studio da einer heißen Spur auf den Fersen: Spiele mit historischem regionalem Bezug könnten sich als erfolgreiche Nische etablieren – mit Potential für gesellschaftlichen Mehrwert. Eben weil sie nah an den Menschen vor Ort sind.

Der Spieleentwickler und -publisher upjers zählt mit bis zu 100 Millionen Spieler*innen weltweit zu den Big Playern der bayerischen Gamesbranche. Dabei hängen die Bamberger ihren Erfolg nicht an die große Glocke. Das hat seinen Grund.

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