Augmented Reality und das Dorfidyll

Von Dorin Popa

Dass man nicht in einer großen Metropole sitzen muss, um mit seinem Startup internationale Erfolge zu feiern, zeigt Tom Orzikowski mit Eycandylab. Gemeinsam mit seinem Kommilitonen suchte der 32-Jährige eine Herausforderung. Gefunden und gemeistert hat er sie in Augmented Reality (AR) Anreicherungen für Bewegtbild.

Die Zukunft des Bewegtbilds, ob lineares Fernsehen oder Video on Demand, ob Unterhaltung, Journalismus oder Produktpräsentationen, liegt möglicherweise vor den Toren Münchens, in Unterföhring. Nicht etwa dort, wo Sender wie Sky und ProSiebenSat.1 residieren, sondern mehr in Richtung Heizkraftwerk, in einem unscheinbaren Businesscenter mit recht unterschiedlichen Mietern wie einem Sicherheitsunternehmen oder anderen klassischen Dienstleistern. Wo nicht einmal die Klingel funktioniert. Aber die Werkstatt der Zukunft, das Eyecandylab, kennt auch keinen Publikumsverkehr.

Immersives Erlebnis über das Smartphone

Die Werkstatt bräuchte nicht einmal unbedingt eine feste Stätte. Die neun Arbeitsplätze im zweiten Stock sind oft recht verwaist. Grund dafür ist, dass die internationalen Expert*innen von überall her an ihrer neuen Technologie, augmen.tv, arbeiten, zu Startup-Acceleratoren zwischen Austin und Paris eingeladen werden und weltweit bei Kunden wie Nickelodeon, Softbank, NBC Universal, Cartoon Network oder ProSieben gefragt sind.

Der Kern von augmen.tv ist simpel wie genial. Bewegtbilder von Fernseh- oder Internetkanälen werden als AR Experience mit zusätzlichen Inhalten synchron angereichert. Die User*innen können mit dem Fernseh- oder Videoprogramm interagieren. Ihr Medienverhalten wird dabei analysiert. Heutzutage passiert das noch, indem das Smartphone oder Tablet vor den Bildschirm gehalten wird. Künftig vielleicht mithilfe von Datenbrillen. Außerdem sollen nicht nur große Sender oder Marken die Möglichkeit haben, augmen.tv zu nutzen, so die Vision des Eyecandylab-Teams. Der Service soll technisch so weit heruntergebrochen sein, dass jede*r YouTuber*in oder Schöpfer*in bewegter Inhalte ihn einsetzen und eine eigene Experience erstellen kann.

Feuertaufe bei Galileo: Interaktive AR Experience

Tom Orzikowski, Mitbegründer von Eyecandylab, hatte ursprünglich ganz andere Pläne. Sein Traumjob wäre Pilot gewesen, doch beim Eignungstest ist er krachend am Kopfrechnen gescheitert. Stattdessen machte er eine Ausbildung zum Fachinformatiker und studierte Medienmanagement und Markenkommunikation.

Mit seinem Kommilitonen Robin Sho Moser suchte er sich 2017 eine Herausforderung für die unternehmerische Zukunft: „Lass uns etwas kreieren, bei dem jeder mitmachen kann, weil die Leute das notwendige Tool millionenfach zu Hause liegen haben“, erinnert sich Orzikowski an den Startschuss für Eyecandylab. Seine Premiere feierte die AR Anwendung bei ProSieben: Die innovationsfreudige Galileo-Redaktion gab Moser und Orzikowski in einem sehr frühen Stadium eine erste Chance, „wenn ihr das hinkriegt“. Sie haben es hingekriegt. Über die Galileo-App stellten sie den User*innen vertiefendes Material und weiterführende Inhalte zur Sendung zur Verfügung.

Keine zwei Jahre später operiert Eyecandylab international. Die Company hat einen Firmensitz in Los Angeles. Weltkonzerne nutzen Lizenzen ihrer Technik. Zehn Wochen im Jahr ist Orzikowski auf Reisen. Sein Lebensmittelpunkt ist schon seit Jahren nicht mehr die Münchner Metropolenregion.

Zwischen Medieninnovation und Dorfleben

Neues Fernsehen: augmen.tv reichert Bewegtbild um Augmented Reality Inhalte an.

Neues Fernsehen: augmen.tv reichert Bewegtbild um Augmented Reality Inhalte an.

In diesem Gebäude sitzt das Startup Eyecandylab.

In diesem Gebäude sitzt das Startup Eyecandylab.

Medieninnovator fernab der Metropolen. Tom Orzikowski lebt in Veitsbuch.

Medieninnovator fernab der Metropolen. Tom Orzikowski lebt in Veitsbuch.

Veitsbuch hat etwa 100 Einwohner. Hier fühlt sich Tom Orzikowski wohl.

Veitsbuch hat etwa 100 Einwohner. Hier fühlt sich Tom Orzikowski wohl.

Im Beruf Augmented Reality, in der Freizeit die Natur.

Im Beruf Augmented Reality, in der Freizeit die Natur.

Dorfidyll und schnelles Internet

Er ist ein paar Kilometer weiter nordöstlich, in Veitsbuch, einem 100-Seelen-Ort, aus dem seine Ehefrau stammt. Wo allein das Brennholz, das Orzikowski in einem von ihm bewirtschafteten Stück Wald selber schlägt, hinter seinem Wohnhaus länger als zwei Jahre trocknen muss, bevor er es bei sich daheim verheizen oder den Schweinsbraten darauf zubereiten kann. Ein niederbayerisches Dorf, wo es kein Mobilfunknetz gibt, aber immerhin schnelles Internet. Und damit, so Orzikowski, „keinen Grund, meinen Lebensmittelpunkt in die USA zu verlegen. Ich kann die Firma auch von hier aus aufbauen.“

Das Leben geht in Veitsbuch noch seinen traditionellen Gang. Im Winter Eisstockschießen auf dem Löschweiher. Im Frühjahr geht man gemeinsam den Maibaum schlagen und aufrichten. Und nach einem Sturm oder wenn der Borkenkäfer zuschlägt, ist das halbe Dorf im Wald, um der Katastrophe zu trotzen. „Ich wäre definitiv ein ganz anderer, wenn ich in München oder L.A. lebte. Hier in Veitsbuch muss man nichts gelten oder beweisen. Natürlich hat jeder sein Packerl zu tragen. Aber man wird respektiert, ohne etwas reißen zu müssen. Das ist für mich richtiger Luxus“, sagt Orzikowski.

Abseits des Startup-Szene

Ein Bauerndorf, das sich selbst versorgen könnte. Und das Orzikowskis Blick auf vieles justiert. Beim Spaziergang mit seinem Hund Finn ist schnell nicht mehr die Rede von Venture Capital, Fundraising oder dem Delaware Flip, der Umwandlung eines Startups in eine Holding nach amerikanischem Recht. Sondern von dem, was ihn umgibt und wirklich zählt: die Natur.

Orzikowski glaubt an einen Paradigmenwechsel, bei dem die Ausbeutung der Natur endet und von einem nachhaltigen Miteinander abgelöst wird. „Die Welt beschäftigt sich mit First-World-Problemen, man will zum Mars statt sich mit der eigenen Erde zu beschäftigen, ihrem Zustand und ihrer Zukunft.“

Vielleicht gibt es auch dafür irgendwann Lösungen, bei denen jeder ganz einfach mitmachen kann. Dann aber wohl nicht über AR.

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