„Die Rettung“ – Erleben statt Erzählen

Von Petra Dahm und Friederike Neubert

Eine Bergung hautnah miterleben. Das soll den Nutzer*innen durch das XR-Projekt „Die Rettung“ ermöglicht werden. © BR

Aus dem Abgrund geborgen: Zum Jubiläum „100 Jahre Bergwacht in Bayern“ entwickelt der Bayerische Rundfunk (BR) das Digitalprojekt „Die Rettung“, das die Nutzer*innen mithilfe von Virtual Reality (VR) eine Bergung mit allen Sinnen erleben lässt. Wie klassisches Storytelling zu Storyliving wird und was ein imaginäres Dreieck damit zu tun hat, erklärt Matthias Leitner, Digital Storyteller und Regisseur von „Die Rettung“ im Interview.

Matthias, „Die Rettung“ ist für den BR das erste VR-Projekt, das ein Erleben mit allen Sinnen ermöglichen will. Wie ist die Idee zu diesem Projekt entstanden?

Matthias Leitner: Wir haben darüber nachgedacht, was wir zum Jubiläum „100 Jahre Bergwacht Bayern“ machen könnten. Nach einem Workshop mit Bergretter*innen und nachdem wir einige Berichte von Geretteten gelesen hatten, war uns klar, dass uns vor allem eine Fragestellung reizt: Was wäre, wenn wir es schaffen, eine Bergrettung erlebbar zu machen? Wenn wir die Arbeit der Rettungskräfte und das Gefühl der Geretteten so intensiv wie möglich als VR-Installation erzählen?

Außerdem wollen wir als öffentlich-rechtliches Rundfunkhaus lernen, wie VR-Experiences im Journalismus erzählt und technisch realisiert werden müssen. Mit Projekten wie „Die Rettung“ können wir Erfahrungen sammeln und dabei zugleich Content zu einem relevanten Themenfeld produzieren, Stichworte sind dabei die Sicherheit am Berg und das freiwillige Engagement der Rettungskräfte.

Testlauf von „Die Rettung“ in Bad Tölz, Foto: Luis Trautmann

Du bezeichnest dich selbst als digitalen Storyteller an der Schnittstelle von digitaler Innovation, sozialer Verantwortung und künstlerischer Forschung. Woher kommt Deine Faszination fürs Geschichten erzählen?

Leitner: Storytelling liegt in unserer DNA veranlagt, das beschreibt beispielsweise der Historiker Yuval Harari in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ sehr eindringlich. Und vor ihm natürlich schon Forscher und Storyteller wie Joseph Campbell mit „Der Heros in tausend Gestalten“. Schon immer umgeben uns Geschichten, aus denen wir lernen, über die wir uns freuen, die uns eine Richtung weisen oder die wir uns zur Gemeinschaftsbildung weitererzählen. Diese Geschichten durchziehen unsere ganze Gesellschaft und unsere grundsätzliche Ordnung – sei es das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, die Art und Weise, wie wir uns in Gruppen organisieren, oder unsere Familienstrukturen und ihre Mythen. Insofern sind Geschichten – auch wenn uns das nicht immer bewusst ist – ein Teil von uns und beeinflussen, wie wir Menschen leben und denken.

XR-Technologien (Extended Reality) lassen uns Nutzer*innen jetzt mit allen Sinnen in Szenarien eintauchen. Wie funktioniert hier gutes Storytelling?

Leitner: XR zieht einen mit allen Sinnen in die erzählten Welten. Das entwickelt eine unglaubliche Kraft, der man sich kaum entziehen kann, daher auch der Ausdruck Storyliving. Bei VR spielt immer der Begriff der Immersion eine Rolle, das Eintauchen in andere Welten. Damit kommt dann auch die Verantwortung für die Nutzer: Was sollen sie erleben? Wieviel Nähe und Emotion kann man ihnen zumuten? Was erzählen wir und was sollen unsere Nutzer durch ihre Interaktion selbst erleben? Wie schaffen wir es, dass die Nutzer sich selbst als handelnder Teil einer Storywelt fühlen und entsprechend ins Handeln kommen?

Ehrlich gesagt habe ich auf diese Fragen keine allgemeingültige Antwort. Mit „Die Rettung“ probieren wir einen speziellen Weg aus. Bei einem nächsten Projekt werden wir wieder vor denselben Fragen stehen und ganz andere Antworten darauf finden müssen. Das ist für Geschichtenerzähler das Spannende an XR: Wir müssen unsere gewohnte Art zu arbeiten hinterfragen und vieles neu lernen.

Matthias Leitner, Foto: privat

Lassen sich Geschichten – vor allem im mehrdimensionalen Raum – überhaupt nach einer festen Struktur erzählen?

Leitner: Erzählen nicht, aber in der Entwicklung kann man klaren Prinzipien folgen. Ich benutze als Grundprinzip bei meinen Projekten ein imaginäres Dreieck, das aus den Punkten Story – Technik – Nutzer besteht.

Die Story ist die Essenz des Themas. Dazu gehören die Welten, Figuren, mögliche Dramaturgien und Konflikte, die erlebt werden sollen. In unserem Fall haben wir uns konkret vorgenommen, einen Rettungseinsatz zu erzählen.

Beim Punkt Technik kommt es darauf an, frühzeitig zu bedenken, welche Wirkungsweisen und Interaktionsmöglichkeiten die jeweilige Technik für die Nutzer bereithält. Vermittelt durch die Technik können die Nutzer eine Rolle im Gesamterlebnis erhalten und möglicherweise selbst zu Akteuren werden. Bei „Die Rettung“ haben wir uns für eine immersive Installation entschieden. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Story-Ebene.

Am dritten Punkt des Dreiecks stehen, wie schon gesagt, die Nutzer. Wir wollten sie aus einer spezifischen Perspektive die Rettungs-Story nacherleben lassen – und das mit der Technik VR. Wichtig ist vor allem, die potenziellen Nutzer frühzeitig in die Entwicklung einzubinden, mit ihnen zu sprechen, mit ihnen zu testen.

Der Entwicklungsprozess besteht dann daraus, zwischen den drei Punkten die perfekte Balance zu finden, zu testen, zu modifizieren, wieder zu testen. Während der Entwicklung des Projekts wird das Dreieck und seine Zusammenhänge dann immer konkreter: Wie wirkt sich das Nutzungsszenario auf die Technik aus? Wie sollte der Inhalt – also die Story – aufbereitet sein, damit alle drei Punkte miteinander matchen und die Nutzer eine Erfahrung machen, die nur in dieser Kombination möglich ist?

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Welche bereits vorhandenen XR-Anwendungen faszinieren Dich besonders? Hast Du Vorbilder bei einer Entwicklung Deiner eigenen Storyline?

Leitner: Für mich ist besonders das immersive Theater spannend: Hier wird ein besonders hohes Maß an Storyliving gefordert, das die Zuschauer zum Mitwirken bewegt, indem sie beispielsweise selbst eine Rolle spielen und so Teil der Aktion werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die dänische Gruppe SIGNA, die bereits 2013 in Berlin Dantes Inferno als immersiven „Club Inferno“ angelegt hat. Und natürlich noch die Truppe Punchdrunk, die von HBO engagiert wurde, um ein immersives Projekt zu realisieren. Grundsätzlich sind alle Projekte interessant, die Game Design, Technik und Theater vereinen, in Deutschland zum Beispiel MachinaEx.

Und enorm spannend finde ich die Case Studies der Macher von „The Void“, zum Beispiel die von Curtis Hickman. Er erzählt, wie ihm magische Illusionen und Zaubertricks dabei geholfen haben, die virtuelle Realität als Erzählraum für sich zu erobern.

Angenommen, man hat eine Idee für eine Geschichte, ist sich aber noch nicht sicher, wie man sie umsetzen und wo man anfangen soll. Wie geht man am besten vor?

Leitner: Wenn ich zu Beginn eines neuen Projektes noch in der Ideation stehe und keine explizite Technik bespielen will, arbeite ich das Thema nach und nach aus – ob und welche Medien ich dann unterstützend einsetze, kommt meistens ganz von allein. Eigentlich ist also ziemlich offen, was schlussendlich entsteht.

Mehr über Storyliving erfahren:

Der XR Hub Bavaria veranstaltet am 24. Juni 2020 ab 17:00 Uhr einen Online-Talk zum Thema „From Storytelling to Storyliving“.

Mit dabei sind Astrid Kahmke, Kuratorin und Festivalleiterin des Virtual Worlds Festivals und Matthias Leitner, Digital Storyteller und Regisseur des VR-Projektes „Die Rettung“. Moderiert wird die Veranstaltung von Wolfgang Kerler, Chefredakteur von 1E9. Das virtuelle Event findet in einem Mozilla Hubs Raum Statt. Die Teilnahme erfolgt via Oculus Quest oder Browser.
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