Focus Online: KI und Konstruktivität

SEIT HERBST 2020 SETZT FOCUS ONLINE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ EIN, UM KONSTRUKTIVE INHALTE ZU ERZEUGEN. CHEFREDAKTEUR FLORIAN FESTL GIBT EINBLICKE IN DEN CONSTRUCTIVE SCORE UND DIE ARBEIT MIT KI.

Text: Christoph Henn
Foto oben: BurdaForward. Foto unten: Simon Koy

Neue Technologien beeinflussen zunehmend die journalistische Arbeitsweise. Wie messen Sie Wirkung und Qualität Ihrer Beiträge?

Florian Festl: Es ist ein unschätzbarer Vorteil des digitalen Journalismus, dass wir ein „Live-Feedback“ der Nutzer:innen beziehen können und in jedem Moment erfahren, wie stark unsere Inhalte rezipiert werden. Neben der Quantität der Interaktionen schauen wir auf ihre messbare Qualität. Die für uns wichtigste Reichweitenwährung bleiben die Unique User. Aktuell erreichen wir mit den BurdaForward-Portalen zehn Millionen Menschen täglich und über 40 Millionen im Monat. Neben den Uniques interessieren uns Verweildauer und Scrolltiefe in unseren Stücken. Darüber hinaus fragen wir ab, wie wertvoll oder hilfreich ein Inhalt für die User war, und bilden daraus Rankings.

Wie erfragen Sie das beim User?

Festl: Mit einer rot-grünen Ampel-Logik unter den Artikeln von Focus Online.

Eine ziemlich analoge Art der Qualitätsmessung.

Festl: Wir setzen zusätzlich smarte Technologien ein. Wir haben einen auf künstlicher Intelligenz basierenden „Constructive Score“ entwickelt. Er sagt uns zu jeder Sekunde, wie konstruktiv die Inhalte von Focus Online sind.

 

Zur Person

Florian Festl ist seit 2018 Chefredakteur des Nachrichtenportals Focus Online. Dort arbeitet der Diplom-Journalist seit 2005 in verschiedenen Positionen – unterbrochen von einer dreijährigen Station beim sozialen Netzwerk wize.life, wo er als Chief Content Officer und Co-Geschäftsführer wirkte.

 

Was versteht man bei Focus Online unter konstruktiven Inhalten?

Festl: Ein journalistischer Inhalt gilt als konstruktiv, wenn er über die reine Berichterstattung hinausgeht und Perspektiven aufzeigt. Er erweitert die Nachricht, indem er eine Lösung für einzelne und die Gesellschaft anbietet oder zumindest andeutet.

Erschreckende neue Zahlen zum Klimawandel werden also nicht nur als Katastrophe vermeldet?

Festl: Negative Nachrichten rund ums Weltklima berichten wir natürlich, weil das die Realität ist. Aber wir erweitern den Blick auf die Chancen und Lösungen, die wir jetzt brauchen. Bei News stellt sich für uns viel stärker die Frage, wie wir sie machen, und weniger, ob wir sie machen. Unsere Nachrichten sollen zum einen verlässlich sein, zum anderen relevant, in einem dritten Schritt aber auch konstruktiv. Dazu zählt die Grundhaltung im Umgang mit Themen: Gehe ich schon pessimistisch ran? Will ich das Haar in der Suppe finden? Oder glaube ich daran, dass es positiv wirkende Menschen und gut funktionierende Systeme in unserer Gesellschaft gibt, über die zu wenig berichtet wird?

Wie verträgt sich diese Grundhaltung mit dem Ziel, möglichst viele Unique User zu erreichen?

Festl: Ich glaube nicht, dass der Satz „Good News are Bad News“ eine immerwährende Gültigkeit hat. Wir haben das bei Facebook gesehen, wo in einem freien Spiel der Kräfte über lange Zeit viele Bad News in den Vordergrund gerückt wurden. Irgendwann gab es eine Gegenreaktion bei den Menschen, denen all das zu negativ war. Deswegen zahlt eine Fokussierung auf eine positive Grundhaltung zu 100 Prozent auf unsere Reichweitenziele ein.

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Künstliche Intelligenz misst Konstruktivität von Beiträgen

Seit Herbst 2020 setzen Sie dafür ein inhouse entwickeltes, auf KI basierendes Tool ein: den Constructive Score. Welche Erkenntnisse hat er gebracht?

Festl: Die Verweildauer in konstruktiven Inhalten ist ungefähr zweieinhalbmal so hoch wie in den übrigen. Das liegt einerseits daran, dass es sich in der Regel um tiefer recherchierte Artikel handelt. Es besteht ein großes Interesse an den aufgezeigten Lösungen. Die Menschen empfinden diese Inhalte als wertvoll und kehren häufiger wieder. Zum anderen sehen wir, dass seit Einführung des Tools die Konstruktivität all unserer Inhalte um zehn Prozent gestiegen ist. Das ist enorm. Unsere Mission, konstruktiver zu werden, wird nach und nach erfüllt.

Wie misst die künstliche Intelligenz die Konstruktivität eines Beitrags?

Festl: Während einer langen Lernphase wurde das KI-Tool mit Inhalten gefüttert, die zuvor von Journalist:innen aus unserem Haus bewertet wurden. Zunächst hat also menschliche Intelligenz bestimmt, wie konstruktiv ein Inhalt ist. Im Zuge des maschinellen Lernens hat das System nach und nach erkannt, welche Sprachmuster, welcher Wortschatz, welche grammatikalischen Eigenheiten, welche Wortreihenfolgen konstruktiven Inhalten zugrunde liegen. Nun liefert der Score für jeden Beitrag einen Indexwert, der mit dem Durchschnitt verglichen wird.

Es macht für die Mitarbeiter:innen einen Unterschied, ob sie Tag für Tag negativ konnotierte Nachrichten schrubben oder ob sie auch in Lösungen denken.“

Welche Folgen hat es, wenn der Score einen Beitrag als unterdurchschnittlich konstruktiv bewertet?

Festl: Grundsätzlich geht es darum, dass der Trend langfristig stimmt. Aber wir können mithilfe des Tools auch einzelne Inhalte optimieren. Ein Ausreißer kann für den Chef vom Dienst (CvD) Anlass sein zu prüfen, ob handwerklich etwas nicht passt oder die Nachricht einfach negativ ist. Oft weist der Score auch darauf hin, dass ein eigentlich konstruktiv geschriebener Artikel nicht gleichermaßen konstruktiv betitelt ist. Solche Indikatoren führen auch zu direkten Optimierungen.

Wie gehen Redakteur:innen damit um, dass künstliche Intelligenz ihre Arbeit steuert?

Festl: Die Kolleg:innen zeigen in weiten Teilen große Begeisterung für den konstruktiven Ansatz und unseren Weg, der sich schon seit mehreren Jahren im Claim von BurdaForward spiegelt: „Das sind gute Nachrichten“. Es macht für die Mitarbeiter:innen einen Unterschied, ob sie Tag für Tag negativ konnotierte Nachrichten schrubben oder ob sie auch in Lösungen denken. Zum anderen begreifen wir uns als Media- und Tech-Company. Da gehören Messungen mit technischen Hilfsmitteln zum Alltag. Wir sind stolz, dass wir mit dieser Eigenentwicklung ein im Markt einzigartiges Tool zur Verfügung haben.

Präsenz von KI in Newsrooms wird zunehmen

Wie wird sich, abgesehen von diesem konkreten Tool, die Zusammenarbeit zwischen Menschen und KI im Newsroom weiterentwickeln?

Festl: Sie wird sich intensivieren. Es wird aber weiterhin Aufgaben geben, die nur mit menschlicher Intelligenz und Kreativität zu bewältigen sind. Hinsichtlich der Entwicklung von News-Feed-Algorithmen erwarte ich bei deutschen Publishern noch große Schritte. Die Pacemaker waren hier die Big-Tech-Unternehmen, weil wirklich intelligente Feeds sehr aufwändig zu bauen sind. Ich glaube an hybride Angebote. Wir können und sollten keinen zu 100 Prozent personalisierten Nachrichtenfeed erzeugen lassen.

Und was wird personalisiert?

Festl: Alles jenseits der nachrichtlichen Grundversorgung. Wir werden die Menschen weitaus länger in den Angeboten halten, wenn klug personalisierte Inhalte angeboten werden. Wir fragen uns, welches weiterführende Angebot für die Person, die schon bei uns ist, das passende ist. Bislang überlässt unsere Industrie das häufig externen Anbietern wie Outbrain. Wir sind überzeugt, dass wir intern bessere Lösungen bauen können, zumal wir über ein Netzwerk mit 13 eigenen und 200 Partnermarken verfügen.

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