Inklusion meets Innovation: 9 bayerische Vorreiter machen Medien barrierefrei
Rund acht Millionen Schwerbehinderte leben in Deutschland, darunter Menschen mit Sehbehinderung, Schwerhörigkeit oder Mobilitätseinschränkung. Sie sind nicht nur im analogen Alltag auf Barrierefreiheit angewiesen, sondern benötigen auch digital inklusive Medienangebote. Diese neun innovativen Unternehmen und Projekte aus Bayern machen Apps, digitale Dienste und Medien barrierefrei und setzen sich für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen ein.
Eye-Able
Die Entwickler von Eye-Able aus dem unterfränkischen Margetshöchheim haben eine Assistenzsoftware für Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit entwickelt. Sie erlaubt es Nutzer:innen, unter anderem Kontrastverhältnisse, Schriftgrößen, Tonausgabe und Tastaturnavigation an ihre individuellen Bedürfnisse anzupassen. Mit über 25 verschiedenen Funktionen soll die Software helfen, die Normen der Barrierefreiheit für Webseiten einzuhalten. Eye Able kann als Button in jede Webseite oder in die Navigationsleiste eingebunden werden.
Diese Audiodeskriptions-App ermöglicht es Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen, an gemeinsamen Fernseherlebnissen teilzuhaben. Mit Hilfe der App des Bayerischen Rundfunks können Nutzer:innen die Audiodeskription über ihr Smartphone hören, während Familie oder Freunde eine Serie ansehen. Über das TV-Gerät hören die Sehenden den regulären Sendeton. Oder andersherum: Menschen mit Sehbehinderung hören die Audiodeskription über das Fernsehgerät und Sehende können den regulären Sendeton mit Kopfhörern in der App verfolgen. Das Programm befindet sich in der Testphase und ist ab 26. Juli 2021 auch für die Kult-Serie „Dahoam is Dahoam“ verfügbar.
Eine zusätzliche Inhaltsebene für alle Menschen mit Einschränkung – egal welcher: das ist das Ziel des Projekts „Fernsehen für alle“. Das Institut für Rundfunktechnik (IRT), die Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien (abm) und die Bayerische Medien Technik (bmt) arbeiten für dieses HbbTV-Projekt mit Technologiedienstleistern zusammen. Zuschauer sollen mit „Fernsehen für alle“ im Second Screen die Unterstützung zuschalten können, die sie brauchen: Untertitel, Gebärdensprachdolmetscher:innen, Soundtracks mit Audiodeskription oder Leichte Sprache. Die abm arbeitet mit dem Tool für ihre Programmfenster bei münchen.tv und Kabel Eins. „Fernsehen für alle“ kann über eine Mediathek barrierefrei genutzt werden.
Vimeo-Mediathek der abm
Die abm will Menschen mit Behinderung den Zugang zu digitalen Medien erleichtern und in ihren Sendungen über ihre Anliegen informieren. Dazu hat sie auf Vimeo eine Mediathek mit ihren Sendungen, die teilweise auch auf münchen.tv, Kabel eins und Sport1 laufen, aufgebaut. Die Geschichten darin sind aus Sicht von Menschen mit Behinderung erzählt und sollen ihre Perspektiven sichtbar machen.
Das Jugendmagazin „yoin“ und die Talkshow „Krauthausen – face to face“ kann die abm voll inklusiv anbieten. Das bedeutet, dass alle Menschen, egal ob sie eine Beeinträchtigung haben oder nicht, die Sendungen konsumieren können – mit Untertiteln, Audiotranskription, Gebärdenübersetzung oder in leichter Sprache.
Ein Digitalradio, das sich über Sprache steuern lässt, entwickelte das Unternehmen TechniSat zusammen mit der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), dem Bayerischen Rundfunk (BR) und Bayern Digital Radio. Seit Oktober 2020 gibt es das Digitalradio 3 Voice im Handel. Es soll vor allem Menschen mit eingeschränktem oder fehlendem Sehvermögen die Bedienung des Radiogerätes erleichtern, ohne dass persönliche Daten online gespeichert werden. Die Sprachsteuerung funktioniert internetunabhängig. Insgesamt 19 verschiedene Sprachbefehle werden vom Radiogerät selbst ausgewertet und umgesetzt. Zusätzlich zu DAB+ Digitalradio und UKW, kann das Gerät auch Musik über CD oder USB abspielen.
Die neue Norm
Einmal im Monat sprechen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raúl Krauthausen in ihrer Sendung auf Bayern 2 über Vielfalt, Inklusion und das Leben von Menschen mit Behinderung. Alle drei leben selbst mit einer Behinderung und wollen in ihren Gesprächen Strukturen hinterfragen, Diskriminierung offenlegen und Einblicke liefern, die die Mehrheitsgesellschaft nicht hat. Die Sendung gibt es auch als Podcast auf allen gängigen Portalen. Das begleitende Online-Magazin bietet eine zusätzliche Perspektive auf Themen aus Kultur und Gesellschaft.
Ein Team von Forscher:innen der Universität Augsburg entwickelt zusammen mit fünf weiteren Partnern aus Forschung und Entwicklung einen 3D-Avatar, der unter dem Projektnamen AVASAG (Avatar-basierter Sprachassistent zur automatisierten Gebärdenübersetzung) Text in Gebärden umwandeln kann. Mit mehr als 10.000 Paaren aus Text und entsprechender Gebärde wird das System trainiert, um Texte automatisch in Gebärdensprache für den 3D-Avatar zu übersetzen. Das Projekt läuft noch bis 30. April 2023 und wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Randgruppenkrawall
Weil Menschen mit Behinderung in den Medien aus ihrer Sicht zu wenig berücksichtigt werden, startete Patricia Koller ihren Blog Randgruppenkrawall. Sie will Betroffene, Angehörige und Unterstützer:innen zusammenzubringen, online wie offline. Dafür hat Koller ein ganzes Netzwerk aus Autor:innen aufgebaut, das über Missstände in Politik, Gesellschaft und Verwaltung aufklärt. Über den Zusammenschluss werden auch Inklusions-Stammtische oder Veranstaltungen organisiert. „Hintergrund ist, dass wir in den Medien zu wenig vorkommen und so unsere eigenen Medien machen“, sagt Patricia Koller, die seit einigen Jahren nach einer Borrelien-Infektion einen Rollstuhl nutzt. Als Aktivistin für Behindertenrechte prangert sie an, dass sich Behörden immer wieder nicht an geltende Gesetze halten, und fordert ein Beschwerdesystem für Schwerbehinderte.
Der Cloudservice Eve stellt automatisch Live-Untertitel aus gesprochener Sprache her. Damit leistet das System nicht nur einen Beitrag zur Barrierefreiheit, Inhalte können auch in mehrere Sprachen übersetzt werden. Im Hintergrund arbeitet eine künstliche Intelligenz, die mitlernt und die Übersetzung stetig verbessert. Entwickelt wurde Eve von Filmgsindl mit Sitz in München. Eve kann für spezielle Veranstaltungen oder Vorträge gemietet werden, zudem arbeitet das Unternehmen an einer kostenlosen Version.
Wie barrierefrei sind Medien wirklich?
Es tut sich etwas in Sachen Barrierefreiheit, doch die Bemühungen um Inklusion gleichen einem Marathonlauf. „Viele Internetseiten sind nicht nach den Grundsätzen des barrierefreien Zugangs für alle mit textbasierten Darstellungen und Bildkommentaren programmiert“, kritisiert Christian Seuß. Er ist im Vorstand der LAG Selbsthilfe Bayern e.V., der Dachorganisation von Behindertenselbsthilfeverbänden in Bayern. Positiv schätzt er ein, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk bei seinen Fernsehprogrammen zunehmend die Belange behinderter Zuschauer berücksichtigt.
„Der Anteil von Sendungen und Filmen mit Untertitelungen für Menschen mit Hörbehinderung liegt beim Bayerischen Rundfunk und anderen öffentlich-rechtlichen Sendern bei rund 90 Prozent“, schätzt Seuß. „Fernsehprogramm mit Audiodeskription hinkt zwar hinterher. Aber in der Primetime ist die Quote auch schon relativ gut, sodass blinde und sehbehinderte Zuschauer:innen regelmäßig aus einer größeren Zahl barrierefreier Programmangebote auswählen können.“
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