Claudia Paganini und Markus Knall beschäftigen sich mit der Frage, wie viel Haltung Journalist:innen zeigen dürfen. / Foto: Sebastian Arlt
Markus Knall und Claudia Paganini: Haltung im Journalismus
Immer häufiger beziehen Medien Position und machen ihre Haltung zu bestimmten Themen deutlich. Woran liegt das? Und was passiert mit der journalistischen Neutralität? Medienethikerin Claudia Paganini und Markus Knall, Chefredakteur von Ippen Digital, im Gespräch.
Der Fernsehjournalist Hanns Joachim Friedrichs sagte 1995 in einem Interview mit dem Spiegel: „Das hab ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken (...).“ Sehen Sie das auch heute noch als Maxime der Nachrichtenpräsentation?
Markus Knall: Die Frage der Objektivität von Journalist:innen muss man ein Stück weit neu sortieren. Wir haben zwei Perspektiven: zum einen die subjektive Wahrnehmung der Journalist:innen und die redaktionelle Leitlinie eines Mediums. Dem gegenüber steht das Ziel, möglichst objektiv zu berichten. Die Frage ist nun: Wie gleichen wir das aus? Journalist:innen sind nicht neutral. Sie sollten aber versuchen, sich dem Objektiven zu nähern. Objektivität heißt dabei: Berichte wahrheitsgemäß und fair, berichte umfassend, berichte, indem du verschiedene Perspektiven eines Themas wiedergibst.
»Die neue Objektivität im Journalismus ist Transparenz.«
Markus Knall, Chefredakteur von Ippen Digital / Foto: Sebastian Arlt
Ändert sich die Bedeutung von Objektivität im Journalismus auch durch die Digitalisierung?
Knall: Ja, die Prämisse der Objektivität verliert an Dominanz und wird ersetzt durch Transparenz. Den Leser:innen ist bewusster, dass hinter jedem Text ein Individuum mit seiner persönlichen Wahrnehmung steht. Und Journalist:innen präsentieren sich und ihre Meinung immer offensiver in sozialen Netzwerken. In der Gesellschaft wird zunehmend Haltung eingefordert und die Leser:innen erleben, wie Influencer:innen die Vermarktung ihrer Subjektivität zum erfolgreichen Modell machen. Das färbt ab, und daher werden wir die Autor:innen in Zukunft noch viel deutlicher in ihren Texten spüren. Dann gilt aber auch: Sei transparent und mache klar, aus welcher Perspektive du berichtest. Meiner Meinung nach wird Transparenz die neue Objektivität im Journalismus.
Claudia Paganini: Diesen Satz finde ich sehr schön und richtig. Kürzlich habe ich über Wertewandel referiert und dort die These vertreten, dass Transparenz die neue Wahrheit sein könnte. Ich glaube, dass Werte sich wandeln, weil die Gesellschaft im Wandel ist. Aber auch, weil sich die wissenschaftliche Perspektive mit Blick auf die Werte ändert. Das klassische Verständnis war: „Wahr ist das, was mit der Realität korrespondiert." Aber das wird in der Wissenschaft kaum mehr vertreten. Heute geht es vielmehr darum: „Wahr ist, wofür ich keine zwingenden Gründe habe, das Gegenteil anzunehmen."
Knall: Die Digitalisierung macht es immer leichter, sich in der virtuellen Welt seine eigene Wirklichkeit zu schaffen. Einen Wahrheitsbegriff, auf den sich alle verständigen, können auch um maximale Objektivität bemühte Journalist:innen immer seltener finden. Besonders wenn es um Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit geht. Denn wie sieht Objektivität in Gerechtigkeitsfragen aus? Da kommen Journalist:innen schnell an ihre Grenzen.
Werden Echokammern durch den digitalen Journalismus befeuert?
Knall: Echokammern entstehen, weil digitaler Journalismus heute in wichtigen Teilen algorithmisch gesteuert ist. Und Algorithmen haben in der Regel eine Neigung oder Bevorzugung. Das verstärkt Meinung sogar – aber eben nur die eigene. So erzeugen Algorithmen Echokammern der eigenen Wahrnehmung. Es ist eine sehr wichtige journalistische Frage, wie wir dem begegnen. Da gibt es zwei Möglichkeiten: normative Vorgaben der Branche oder des Gesetzgebers für Algorithmen. Und innovative Technologien wie künstliche Intelligenz, die helfen, dem „Bias“ entgegenzuwirken. Vereinfacht gesagt: KI hilft, Probleme zu lösen, die durch KI entstanden sind.
Eine kurze Begriffserklärung: Ist Meinung mit Haltung gleichzusetzen?
Paganini: Ich würde sagen, dass Haltung eine starke persönliche Ausrichtung hat, Meinung dagegen im Reich der Gründe angesiedelt ist. Wenn mich jemand nach meiner Meinung fragt, dann sollte ich sie mit Argumenten begründen können. Haltung dagegen ist stärker emotional und persönlich. Bei verschieden geprägten Haltungen, die unvermittelt aufeinanderprallen, geht die Tendenz dann meist in Richtung Diskussionsabbruch.
Dürfen Journalist:innen bei einschneidenden Ereignissen Emotionen zeigen?
Paganini: Das ist umstritten. Wir haben in den liberalen Staaten die Aufklärung etwas überstrapaziert und allzu sehr auf die Vernunft und den Verstand der Menschen gesetzt. Emotionen waren eher verpönt, man hat sie faschistischen Regimen zugeschrieben, im Sinne von „negativen Emotionen“. In den letzten Jahren gibt es jedoch immer mehr Vordenker:innen, die der Ansicht sind, dass auch liberale Demokratien Emotionen brauchen – und damit die Repräsentant:innen solcher Systeme, also auch Journalist:innen. Wir brauchen vor allem positive Emotionen. Wenn wir den negativen Emotionen nur die Vernunft entgegenhalten, ist das zu wenig.
»Menschen brauchen Narrative, die über die harten Fakten hinausgehen.«
Claudia Paganini, Medienethikerin / Foto: Sebastian Arlt
Wie empfanden Sie die Emotionalität der medialen Berichterstattung während der Corona-Pandemie?
Paganini: Die Corona-Zeit zeigte uns deutlich, dass Menschen über die harten Fakten hinaus Narrative brauchen, in denen sie sich wiederfinden und etwas Sinnstiftendes erkennen. Empathie zum Beispiel und Identifikation mit anderen. Wenn Journalist:innen bei wirklich gravierenden Ereignissen gar keine Emotionen zeigen, ist es eigenartig für das Publikum. Andererseits erwarten wir schon, dass sie sich so weit unter Kontrolle haben, dass sie nicht in Tränen ausbrechen. Es ist eine Gratwanderung. Das hat schon Adam Smith gesagt: Bei Emotionen erwarten wir vom anderen ein Mittelmaß. Wenn mein Gegenüber zu viel oder zu wenig Emotionen zeigt, ist es irritierend.
Wie ist es zu bewerten, wenn Journalist:innen ihre Haltung zeigen, indem sie an Demonstrationen teilnehmen oder sich an Kampagnen beteiligen?
Knall: Trotz aller Transparenz: Journalist:innen sollten nie Aktivist:innen sein. Wenn sie sich öffentlich überengagieren, glauben ihnen die Leser:innen irgendwann auch den Versuch objektiver Berichterstattung nicht mehr. Wie objektiv kann Berichterstattung zur Impfpflicht wahrgenommen werden, wenn der Autor auf Instagram stolz sein Pflaster postet? In Deutschland erwarten die Leser:innen von Journalist:innen immer noch ein hohes Maß an Neutralität.
In totalitären Regimen kann die eindeutige Positionierung für Journalist:innen gefährlich werden. Kann man von Journalist:innen erwarten, dass sie ihre Freiheit riskieren, um Haltung zu zeigen?
Paganini: Nein. Wir haben da immer noch diese starke Tradition einer Individualethik. Sicher auch als wichtige Abgrenzung gegenüber dem, was unter Hitler und den Nationalsozialisten passiert ist. Man hat daraus die Konsequenz gezogen, dass jede:r selbst wissen muss, was richtig ist. Aber eine Ethik, die nur den Einzelnen verantwortlich macht, greift zu kurz. Die Frage ist: Wie können Systeme geschaffen oder erhalten werden, in denen der einzelne Journalist, die einzelne Journalistin unabhängig und frei berichten kann? Für Medienunternehmen müssen Formate natürlich wirtschaftlich rentabel sein. Aber guter Journalismus muss uns etwas wert sein. Besonders in digitalen Formaten müssen Journalist:innen, die eindeutig Stellung beziehen, heute jedoch mit einem Shitstorm und sogar Bedrohungen rechnen.
Knall: Mir macht Sorge, wenn Kolleg:innen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu publizieren. Wir brauchen nicht Zurückhaltung, sondern wir müssen Kolleg:innen besser schützen. Das Problem in der digitalen Welt ist, dass wir Aggressor:innen oft nicht früh genug entgegentreten. Sie bekommen zu lange Raum, sodass sich Radikalität aufbauen kann.
Paganini: Es ist extrem wichtig, Position für eine attackierte Person zu ergreifen. Denn es ist fatal, wenn Opfer sich selbst die Schuld zuschreiben oder Schamgefühle entwickeln. Für einen wichtigen symbolischen Akt halte ich es daher, Anzeige zu erstatten. Grundsätzlich sollten wir versuchen, an einem Konflikt das Konstruktive zu sehen und nicht die Bedrohung. Wenn ich unterschiedliche Meinungen als Chance sehe und es mir gelingt, offen dafür zu sein, dass andere auch gute Argumente haben, wäre unglaublich viel gelungen.
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