Foto: BR/Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Innsbruck
„Paula sucht Paula“: Auf den Spuren einer mutigen Journalistin
Sie war wohl die erste deutsche Journalistin, die sich an eine investigative Recherche wagte: Paula Schlier schlich sich 1923 in die Redaktion der NSDAP-Parteizeitung „Völkischer Beobachter“ ein und veröffentlichte später ein Buch über ihre Beobachtungen. Ihre Geschichte arbeitete BR-Autorin Paula Lochte in dem dreiteiligen Podcast „Paula sucht Paula“ auf – und wurde dafür mit mehreren Preisen, zuletzt dem Deutschen Radiopreis ausgezeichnet. Ein Gespräch über Mut, Emanzipation und darüber, dass wir mehr Frauen zur Hauptfigur machen sollten.
Paula, in deinem Podcast „Paula sucht Paula“ gehst du auf Spurensuche rund um die Autorin Paula Schlier, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg als Journalistin arbeitete. Wie bist du auf sie aufmerksam geworden?
Paula Lochte: Die beiden BR-Redakteurinnen, die mich betreut haben, Andrea Bräu und Susanne Poelchau, haben zum Hitlerputsch recherchiert, der sich vergangenes Jahr zum 100. Mal gejährt hat. Es war klar: Wir wollen etwas dazu machen, aber aus einer Perspektive, die noch nicht oft eingenommen wurde. Dann sind die beiden auf Paula Schlier gestoßen, die sich kurz vor dem Putschversuch im NSDAP-Parteiblatt „Völkischer Beobachter“ eingeschlichen hat. Das war eine der ersten investigativen Recherchen in Deutschland! Aber kaum jemand kennt Paula Schlier heute noch. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie eine Frau war. Je mehr wir über sie gelesen haben, desto klarer wurde uns, dass das eine Geschichte ist, die wir erzählen müssen. Also haben mich die beiden Redakteurinnen auf die Spuren dieser spannenden Frau geschickt, die zufällig denselben Vornamen hat wie ich: Paula.
Paula Schlier: Schon 1923 stellte sie Geschlechterrollen in Frage
Wer war sie und warum hat ihre Geschichte dich gecatcht?
Paula: Paula Schlier war eine bayerische Journalistin und Schriftstellerin. Sie hat schon vor 100 Jahren Geschlechterrollen in Frage gestellt. 1921 ist sie als junge Frau von Ingolstadt nach München gezogen, weil sie sich von den Erwartungen ihrer Familie befreien wollte. Ihre Mutter wollte sie mit einem Offizier verheiraten und zu einer bürgerlichen Hausfrau machen, Paula Schlier wollte aber frei und selbstbestimmt leben. Sie begann, in einer liberalen Nachrichtenagentur als Stenotypistin zu arbeiten. Als die Rechtsextremen erstarkten, hatte sie das Gefühl, etwas dagegen tun zu müssen. Sie entschied sich dazu, sich undercover beim „Völkischen Beobachter“ einzuschleusen, beobachtete, wie die nationalsozialistischen Redakteure arbeiteten und beim Hitlerputsch auch gewalttätig wurden. Ich finde ihren Mut und ihre Hellsichtigkeit wahnsinnig beeindruckend. Dass sie sich als junge Frau traute, in dieser Redaktion unter ihrem echten Namen investigativ zu recherchieren und sich damit in Gefahr zu bringen. Zum anderen gab es in ihrer Biografie auch Brüche, sie war nicht perfekt, keine klassische Heldin – und trotzdem hat sie eine Geschichte, die erzählenswert ist.
»Die größte Herausforderung war bei dieser Geschichte, dass man Paula Schlier nicht zu glatt darstellt, dass man sie nicht zur Heldin macht. Denn sie hat auch Entscheidungen getroffen, die ich nicht verstanden habe. Storytelling darf nicht bedeuten, dass man schwarz-weiß erzählt, man muss immer auch Grautöne zulassen.«
Paula Lochte
Foto: David-Pierce Brill
Paula Schliers Geschichte liegt weit in der Vergangenheit und ihre Rolle als Journalistin ist komplex. Wie beginnt man eine solche Recherche?
Paula Lochte: Paula Schlier hat ja selbst als Autorin veröffentlicht. Ich habe also erst einmal versucht, alles in die Finger zu kriegen, was sie geschrieben und publiziert hat – ihre Recherchen, ihre Zeitungsartikel, ihr Buch. Außerdem gibt es einen Nachlass von ihr, der im Brenner-Archiv in Innsbruck aufbewahrt wird. Dort habe ich mit zwei Literaturwissenschaftlerinnen gesprochen, Ursula Schneider und Annette Steinsiek. Ich wollte wissen: Was haben sie über Paula Schlier herausgefunden, was sind ihre Erkenntnisse, was fasziniert sie an der Autorin? Ich habe auch Briefe, Fotos und Unveröffentlichtes anschauen und lesen dürfen. Das war sehr spannend für mich. Es gab dort zwei Momente, die ich nie vergessen werde: Zum einen, als ich das kleine Tagebuch von Paula Schlier in der Hand halten durfte, das sie während ihrer Undercover-Recherche geführt hat. Plötzlich war ihre Geschichte so real für mich. Zum anderen habe ich dort eine weitere Geschichte über Paula Schlier erfahren, die sie nie veröffentlicht hat: Sie wurde 1942 von der Gestapo interniert und entging nur ganz knapp dem KZ. Diesen Teil ihrer Geschichte, aber auch der deutschen Geschichte, erzählen zu können, empfand ich als sehr besonders und wichtig.
In Podcasts kann man sich Zeit nehmen, um eine Geschichte zu erzählen
Warum ist Podcast das richtige Medium, um diese Story zu erzählen?
Paula: Zum einen kann man in Podcasts seriell erzählen, das heißt, man kann sich mehrere Folgen Zeit nehmen, um eine Geschichte zu erzählen. Gerade bei einem so spannenden Leben wie dem von Paula Schlier ist das ganz wichtig, sonst hätte man sich auf einen Aspekt, zum Beispiel eine ihrer Recherchen, beschränken müssen. Außerdem konnte ich mich selbst im Podcast einbringen, konnte meine Gedanken teilen und kommunizieren. Ich nehme dann stellvertretend die Rolle des Publikums ein, spreche offene Fragen an und nehme die Zuhörer:innen mit.
Welche Herausforderungen haben sich dir beim Storytelling gestellt?
Paula: Bei einer großen Recherche hat man irgendwann eine ganze Wand voller Post-its in ganz vielen Farben, und dann muss man schauen, wie man diese Post-its sinnvoll anordnet. In Paula Schliers Fall fand ich das aber relativ einfach, weil von Anfang an klar war: Man muss erzählen, wie sie zum „Völkischen Beobachter“ kam und was sie dort erlebt hat. Und man muss erzählen, wie sie dem KZ entgangen ist. Die größte Herausforderung war bei dieser Geschichte eher, dass man Paula Schlier nicht zu glatt darstellt, dass man sie nicht zur Heldin macht. Denn sie hat auch Entscheidungen getroffen, die ich nicht verstanden habe, zum Beispiel half sie dem Chefredakteur vom „Völkischen Beobachter“, Alfred Rosenberg, vor der Polizei zu flüchten. Das darf man beim Storytelling auf keinen Fall weglassen, auch wenn man sich wünscht, sie hätte anders gehandelt – vor allem, weil wir heute wissen, dass Rosenberg später einer der Hauptkriegsverbrecher war. Storytelling darf nicht bedeuten, dass man schwarz-weiß erzählt, man muss immer auch Grautöne zulassen.
Im Podcast kommen auch Menschen zu Wort, die Paula Schlier kannten, zum Beispiel ihr Stiefenkel – das macht ihn besonders spannend. Wie hast du Angehörige von ihr gefunden?
Paula: Ich habe mir angesehen, wer auf den Fotos abgebildet ist oder welche Namen Paula Schlier in ihren Briefen erwähnt – und ob man da eine Spur zu einer noch lebenden Person findet. Das Brenner-Archiv, das ihren Nachlass verwahrt und erforscht, war dabei eine große Hilfe. In der Neuveröffentlichung ihrer Memoiren ist eine Danksagung an Wolf von Chmielewski abgedruckt – da fragt man sich, wer ist das? Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um Paula Schliers Stiefenkel handelt. Ich habe ihn kontaktiert und er war sofort offen, mit mir zu sprechen. Das ist für die Geschichte natürlich toll, denn es macht eine Person plastischer, wenn man etwas über ihren Alltag erfährt: Wie war Paula Schlier als Person? Hat sie viel gelacht? Wie hat sie sich angezogen, wie wirkte sie?
Die drei Podcastfolgen sind sehr lebendig, es gibt viele Stimmen und Interviewpartner. Warum hast du dich für diese Erzählweise entschieden?
Paula: Die Hauptfigur können wir nicht mehr befragen, deshalb muss es eine Annäherung sein. Die gelingt aus meiner Sicht nur dann, wenn man sich von verschiedenen Punkten und aus unterschiedlichen Perspektiven nähert. Am liebsten hätte ich natürlich Paula Schlier selbst gefragt! (lacht)
Paula Schliers Geschichte macht einem bewusst, wie nah die NS-Zeit auch heute noch ist
Angenommen du hättest die Gelegenheit – was würdest du sie fragen oder ihr sagen?
Paula: Ich würde sie fragen, woher sie den Mut genommen hat. Warum sie Rosenberg bei der Flucht geholfen hat und ob sie das bereut. Und ich würde sie gerne fragen, wie sie auf ihr Leben zurückblickt. Sie hat wenige Jahre vor ihrem Tod angefangen, ihre Autobiografie zu schreiben, die nie veröffentlicht wurde, der sie aber den traurigen Titel „Gescheitertes Leben“ gegeben hat. Ich würde ihr gerne sagen, dass ich das zwar einerseits verstehe, weil sie nie die Anerkennung bekommen hat, die sie verdient hätte, aber auch, dass ihr Leben aus meiner Sicht ein gelungenes Leben war. Dass sie zumindest mich mit dem, was sie gemacht hat, sehr berührt hat.
Was hat diese intensive Recherche mit dir gemacht?
Paula: Die NS-Zeit und die 1920er Jahre, die dorthin geführt haben, kommen uns manchmal weit weg vor, aber sie sind überhaupt nicht weit weg. Rein örtlich: Wenn wir durch München gehen, gibt es so viele Orte, die von den Geschehnissen zeugen – die Schellingstraße, wo die Redaktion des „Völkischen Beobachters“ war. Oder auch der Odeonsplatz, wo der Hitlerputsch aufgehalten wurde. Diese Recherche hat mir bewusst gemacht: Auch zeitlich gesehen ist das, was damals passiert ist, wirklich noch nicht lange her. Ich kann zwar nicht mehr mit Paula Schlier sprechen, aber ich kann noch mit ihrem Stiefenkel sprechen. So wie sie schreibt, erkenne ich viele Parallelen zu mir und zur heutigen Zeit. Dass man das Gefühl hat, dass eine Demokratie leider auch kaputt gehen kann oder zumindest in Gefahr ist, war vor 100 Jahren so und ist heute zumindest ähnlich. Ich halte es für erschreckend, dass eine in Teilen gesichert rechtsextreme Partei wie die AfD in einem Bundesland stärkste Kraft werden kann. Paula Schlier hat einmal sinngemäß gesagt: Verantwortung zu übernehmen ist schwierig, bedeutet aber auch Schönheit, Freiheit und – es ist notwendig. Das ist mir aus diesem Projekt hängen geblieben.
„Das Medium Podcast gibt einem wahnsinnig viel Freiheiten, man kann mit Musik und Geräuschen spielen. Ich finde es faszinierend, dass man etwas, das schon vergangen ist, lebendig werden lassen kann, einfach, weil man es so klingen lässt wie damals.“
Paula Lochte
Für diesen Podcast bist du mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden, darunter der Münchner Sozialcourage-Medienpreis der Caritas und zuletzt der Deutsche Radiopreis. Welche Bedeutung hat diese Bestätigung für dich?
Paula: Das ist einfach überwältigend schön. Den deutschen Radiopreis zu gewinnen, hätte ich kaum zu hoffen gewagt. Auch die anderen Preise freuen mich sehr: Der Preis der Caritas wird beispielsweise für Projekte, in denen es um Sozialcourage geht, verliehen – und ich finde, das ist ein wahnsinnig schönes Wort für das, was wir von Paula Schlier mitnehmen können. All diese Preise sehe ich auch als eine Bestätigung dafür, dass wir Geschichte endlich auch aus der Perspektive von Frauen erzählen sollten. Bisher tauchen sie meistens als Nebenfiguren auf, selten als Hauptfiguren. Das müssen wir ändern.
Du bist seit 2020 als Autorin für den Bayerischen Rundfunk tätig. Was fasziniert dich am Medium Radio bzw. Podcast?
Paula: Es gibt einem wahnsinnig viel Freiheiten, man kann mit Musik und Geräuschen spielen. Ich finde es faszinierend, dass man etwas, das schon vergangen ist, lebendig werden lassen kann, einfach, weil man es so klingen lässt wie damals. Vor allem wenn ich, wie bei „Paula sucht Paula“, einen Regisseur wie Rainer Schaller an meiner Seite habe. Und gleichzeitig sind Radiosendungen und Podcasts bei der Recherche so schön schnörkellos und niederschwellig: Es gibt nicht viel Equipment, das Interviewpartner:innen einschüchtert. Ich mag das Medium auch als Hörerin total gern, weil es einem so nah geht und weil man es unkompliziert überall mit hinnehmen kann.
Berlin, Madrid, Warschau, und München: Du bist in deiner Ausbildungszeit ja schon gut rumgekommen. Warum bist du ausgerechnet in München hängengeblieben und was schätzt du am Medienstandort Bayern?
Paula Lochte: Es gibt in München mit der Deutschen Journalistenschule eine fantastische Ausbildungsstätte für Journalist:innen – dort habe ich einen Platz bekommen und durfte die zweijährige Ausbildung zur Redakteurin machen. Man lernt das journalistische Handwerkszeug von Top-Journalist:innen aus vielen renommierten Medien – davon profitiere ich jeden Tag. Ich bin danach in München geblieben, weil ich beim Bayerischen Rundfunk arbeiten wollte. Hier im Haus werden viele spannende Langformate in Radio oder Podcast umgesetzt. Themen, die man wirklich hintergründig recherchiert, in der Tiefe erzählt und versucht, innovativ und spielerisch zu bearbeiten.
Tüftelst du aktuell schon an einer neuen Idee? Gibt es bestimmte Themen, die du in Zukunft unbedingt noch mal angehen willst?
Paula: Ich arbeite gerade an einer Bonusfolge von „Paula sucht Paula“. Nach der Veröffentlichung der Podcastreihe ist nämlich etwas ganz Schönes passiert: Eine ehemalige Nachbarin von Paula Schlier hat sich bei uns gemeldet, die in den 1970er Jahren in der Wohnung gegenüber von ihr gewohnt hat. Sie ist mittlerweile über 80 Jahre alt. Ich habe sie besucht und sie hat mir von ihren Erinnerungen an Paula Schlier erzählt. Die neue Folge wird um den 9. November veröffentlicht.
Außerdem arbeite ich an einem Gemeinschaftsprojekt von Bayern 2 und dem Instagramkanal „FrauenGeschichte“. Die Idee ist, die Geschichten von ganz normalen Frauen aus unterschiedlichen Generationen zu erzählen und diese Frauen miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir glauben, dass in solchen Alltagsgeschichten schon ganz viel drinnen steckt, aus dem wir etwas über unsere Gesellschaft und darüber, wie sie sich ändern muss, lernen können.
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