Foto: dtv
Stephan Joß von dtv: Bücher verlegen, die bleiben
Stephan Joß hat inzwischen über 30 Jahre Erfahrung im Verlagsbusiness gesammelt. Sein Berufsleben begann im Investmentbanking, bevor er über einen medizinischen Fachverlag und den Hanser Verlag schließlich zu dtv kam und dort 2020 die Geschäftsführung übernahm. Im Interview spricht er darüber, welche Herausforderungen die Verlagsbranche prägen, wie sein Team neue Autor:innen entdeckt und ob sich E-Books noch durchsetzen werden.
Herr Joß, viele Menschen haben ein „Buch ihres Lebens“, das sie tief beeindruckt hat. Sie auch?
Stephan Joß: Ohne Frage: „Homo Faber“ von Max Frisch. Ich habe das Buch als Jugendlicher bestimmt zehnmal gelesen. Die Geschichte von Walter Faber, der sich in eine junge Frau verliebt, ohne zu wissen, dass sie seine Tochter ist, und dann an Magenkrebs stirbt, hat mich aufgrund der dramatischen Wendungen extrem gefesselt; auch der einzigartige Schreibstil von Frisch hat mich fasziniert.
Von der Investmentbank zum Buchverlag
Was hat Sie neben Ihrer Leidenschaft fürs Lesen ins Verlagsgeschäft geführt? Skizzieren Sie uns Ihren Karriereweg.
Joß: Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften und Jura und einer Tätigkeit am Lehrstuhl für Finanzwissenschaften und Geldpolitik an der Universität Freiburg wechselte ich zu einer Investmentbank. Nach vier Jahren war ich dort zwar zum Geschäftsführer aufgestiegen, aber das Arbeitspensum war so enorm, dass ich ein Burnout erlitt. Ich habe mich daraufhin als Sanierungsberater selbstständig gemacht, aber auch diese Arbeit führte mich an meine Grenzen. Zum Glück erinnerte sich ein ehemaliger Kunde an mich, als er einen Geschäftsführer für seinen medizinischen Verlag suchte. Mir war sofort klar, dass ich diese Chance nutzen wollte. So übernahm ich 1992 die Leitung des Fachverlags Urban & Schwarzenberg. Sechs Jahre später bin ich dann in die Geschäftsführung des Hanser Verlags gewechselt, der 21 Jahre meine berufliche Heimat bleiben sollte. 2019 musste ich mich leider aus gesundheitlichen Gründen aus der Geschäftsführung zurückziehen. Dann kam im März 2020 Corona – und dtv, wo ich 20 Jahre im Beirat gewesen bin, benötigte sofort einen Geschäftsführer. Man bat mich, vorübergehend den Verlag zu leiten – und jetzt bin ich seit fast fünf Jahren hier. Gesundheitlich geht es mir zum Glück wieder gut.
Was sind Ihre Aufgaben als kaufmännischer Geschäftsführer bei dtv?
Joß: Laut Organigramm bin ich für Produktion, Marketing, Vertrieb, Buchhaltung, Personal und IT zuständig – Barbara Laugwitz, die verlegerische Geschäftsführerin, für alle Lektorate, Presse und die Vertrags- und Lizenzabteilung. In der Praxis leben wir aber eine gesamtverantwortliche Zusammenarbeit. So nehme ich zum Beispiel an Cover- und Programmrunden teil, während Barbara Laugwitz stark in Marketing und Vertrieb eingebunden ist. Alle Titel werden gemeinsam eingekauft. Diese enge, bereichsübergreifende Zusammenarbeit schätze ich sehr.
Welche Tätigkeit bereitet Ihnen besonders viel Freude?
Joß: Ich liebe es, neue Manuskripte zu lesen. So kann ich meine Neugier nach den unterschiedlichsten Stoffen befriedigen und mein Feedback zu einer eventuellen Akquise beisteuern.
„Viele größere Verlage setzen auf Imprints, wir verfolgen hingegen eine Einzelmarkenstrategie. Die Marke dtv soll für sich sprechen. Sie trägt mit ihrer Geschichte und ihrem klaren Qualitätsversprechen das gesamte Spektrum unserer Veröffentlichungen – vom Bilderbuch bis zum anspruchsvollen Sachbuch.“
Was sind derzeit die größten Herausforderungen für dtv und die Verlagsbranche?
Joß: Die zunehmende Konzentration im Handel hat die Lage für kleinere Buchhandlungen verschlechtert und stärkt die Position der großen Buch-Retailer gegenüber den Verlagen. Thalia ist unser wichtigster Kunde, Amazon spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle, wobei die digitalen Algorithmen unsere Zusammenarbeit zunehmend erschweren. Trotz dieser mächtigen Akteure erzielen wir nach wie vor beachtliche 30 Prozent unseres Gesamtumsatzes im kleinen und mittleren Buchhandel. Eine weitere Herausforderung ist der Umgang mit Künstlicher Intelligenz, sowohl intern als auch bei unseren externen Partnern, Autor:innen und Übersetzer:innen.
Lesen Ihre Lektor:innen heraus, ob ein Autor oder eine Autorin KI genutzt hat?
Joß: Sie erkennen bisher noch sehr gut, ob und wie stark Texte oder Illustrationen mit KI generiert wurden.
Audio und Text: Entwicklungen von KI sind „besorgniserregend“
Wird KI bald Romane verfassen können, die mit den Werken menschlicher Autor:innen mithalten?
Joß: Ich hoffe nicht, aber die Fortschritte der KI in den letzten zwei Jahren sind unter diesem Gesichtspunkt besorgniserregend. Im Bereich Audio tut sich auch viel: Wir sind zur Sicherstellung der Barrierefreiheit verpflichtet, alle Buchtexte als Audioversion – Text to Speech – anzubieten, und wie sich die synthetischen Stimmen zuletzt weiterentwickelt haben, ist wirklich erstaunlich.
Im anspruchsvollen Buchmarkt ist es entscheidend, sich als Verlag klar zu positionieren. Was macht dtv einzigartig?
Joß: Viele größere Verlage setzen auf Imprints, wir verfolgen hingegen eine Einzelmarkenstrategie. Die Marke dtv soll für sich sprechen. Sie trägt mit ihrer Geschichte und ihrem klaren Qualitätsversprechen das gesamte Spektrum unserer Veröffentlichungen – vom Bilderbuch bis zum anspruchsvollen Sachbuch. Einige Jahre hatten wir auch Imprints wie dtv junior, dtv premium und dtv bold, aber wir haben gemerkt, dass das der falsche Weg ist, denn es verkompliziert die Vermarktung und schwächt die Wiedererkennbarkeit der Markenidentität.
dtv hat seinen Sitz in München. Profitiert der Verlag von einem attraktiven Netzwerk vor Ort?
Joß: Die deutsche Autor:innenschaft hat sich stark in Berlin konzentriert, weshalb wir dort personell präsent sein müssen. Trotzdem profitieren wir in München von einem gut vernetzten Umfeld mit zahlreichen Branchenfachleuten und Medienschaffenden. Digital ausgerichtete Player mit großer Strahlkraft wie Amazon und Google sind in München angesiedelt, daher taten wir uns vorübergehend schwer, Talente im Bereich Online-Marketing und digitaler Transformation zu finden und zu halten. Mittlerweile hat sich das Blatt aber gewendet: Viele junge Menschen haben erkannt, dass Weltkonzerne keine Garantie für hervorragende und stabile Arbeitsbedingungen bieten.
Wo suchen Sie nach neuen literarischen Stimmen?
Joß: Wir entdecken Autor:innen über verschiedene Wege. Wir arbeiten mit Scouts in großen Märkten wie den USA, England oder Frankreich, die uns regelmäßig über heiß gehandelte Manuskripte informieren. So versuchen wir potenzielle Bestseller frühzeitig zu erkennen und uns Lizenzen zu sichern. Im deutschen Markt pflegen wir enge Kontakte zu Literaturagent:innen, die uns Manuskripte anbieten, und nehmen Empfehlungen bereits kontrahierter Autor:innen ernst. Zudem besuchen unsere Lektor:innen etwa Open-Mic-Events und Wettbewerbe wie den Ingeborg-Bachmann-Preis, um Talente zu finden.
Haptische Bücher haben den größten Erfolg, E-Books bleiben eine Nische
Inwiefern spielen externe Faktoren wie Zeitgeist, thematische Trends oder Krisen eine Rolle bei der Auswahl von Buchprojekten?
Joß: Im Zuge des Ukrainekriegs haben viele Verlage, auch wir, Tagebücher aus verschiedenen Orten in der Ukraine veröffentlicht. Nach dem Drama in Israel am 7. Oktober 2023 kam bei uns etwa Philipp Peymann Engels Buch über die Gefährdung jüdischen Lebens in Deutschland heraus. Speziell beim Sachbuch reagiert die Branche stark auf aktuelle Ereignisse. In der Belletristik spielen eher gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle. So werden momentan etwa viele Romane über Queerness veröffentlicht, doch auch Geschichten, die nicht im Zeitgeist mitschwingen, erhalten eine Chance, wenn sie überzeugen.
Das E-Book hat sich trotz seiner langen Präsenz auf dem Markt noch nicht durchgesetzt. Wird sich das noch ändern?
Joß: Aktuell liegt der Marktanteil von E-Books bei etwa sechs Prozent. Wir erreichen je nach Genre zwischen neun und 13 Prozent, mit dem größten Erfolg bei Thrillern, Young Adult und in der Frauenunterhaltung. Ich bezweifle jedoch, dass der Gesamtanteil langfristig auf über 15 Prozent steigen wird. Die historisch gewachsene Sozialisierung mit haptischen Büchern hat Bestand. In Schulen werden nach wie vor Taschenbuch-Klassensätze von bedeutenden Werken gekauft. Die im Moment sehr kauffreudige junge Zielgruppe legt außerdem Wert auf eine besondere Aufmachung bei gedruckten Büchern. Ich sehe auch nicht, wie neue digitale Geräte das Leseerlebnis noch verbessern könnten.
Fassen Sie abschließend die Stoßrichtung Ihres Verlags für die kommenden Jahre in einem Satz zusammen.
Joß: Wir machen Bücher, die bleiben.
Bleibe mit dem XPLR: Newsletter immer auf dem Laufenden!