Matthias Leitner: Für Innovation braucht es Freiraum
Matthias Leitner ist Digital Storyteller und entwickelt digitale Strategien und Content für NGOs, Stiftungen und Kulturinstitutionen. Seit 2015 leitet er das „audience:first storytelling lab“ im Bayerischen Rundfunk, außerdem realisiert er im Team Formatentwicklung [&] Innovation des BR Pilotprojekte wie das Messenger-Format „Ich, Eisner!“. Im Interview erzählt er, wie Innovation in Medien gelingen kann und welche Rolle KI dabei spielt.
Herr Leitner, was hat Sie ursprünglich in die Medienwelt gezogen – und was hält Sie bis heute dort?
Matthias Leitner: Mein Weg begann mit der Faszination für Film, seit der vierten Klasse wollte ich Regisseur werden. Später habe ich schnell gemerkt, dass mich die klassische Filmbranche weniger interessiert als die Ränder, an denen sich Theater, Radio, Film, digitale Medien und Wissenschaft treffen. Starre Abläufe langweilen mich. Deshalb suche ich ständig Räume, in denen man ausprobieren, scheitern und daraus etwas Neues entwickeln kann. Was mich dort hält, ist eine Begeisterung für den Journalismus. Sie prägt meine Arbeit. Ich sehe Journalismus nicht nur als Korrektiv, sondern auch als Möglichkeitsraum, als verbindendes Element einer Gesellschaft. Diese Rolle ernst zu nehmen und weiterzudenken, ist mein Antrieb.
Sie sind als Digital Storyteller, UX Designer und zertifizierter Scrum Master (Scrum ist ein Rahmenwerk für Projektmanagement, das in kurzen, Zyklen arbeitet) aktiv – wie verbinden sich diese Disziplinen in Ihrer täglichen Arbeit?
Leitner: Ich entwickle unter anderem beim Bayerischen Rundfunk neue Formate und digitale Innovationen, plattformgerecht, thematisch relevant und für klar umrissene Zielgruppen.Als Digital Storyteller denke ich Dramaturgie so, dass Inhalte zur richtigen Zeit im richtigen Format bei unserer Zielgruppe ankommen. UX Design ist dabei mein methodisches Rückgrat: Es zwingt mich zur Nutzerperspektive und strukturiert den kreativen Prozess. Agile Prinzipien wiederum helfen mir, in interdisziplinären Teams effizient zu arbeiten. Auch ohne immer die klassische Rolle eines Scrum Masters einzunehmen, bringe ich Tools und Mindsets ein, die den Prozess rhythmisieren. Das ist mein methodisches Framework, im BR ebenso wie in Projekten mit Kultur- und Bildungsinstitutionen.
Je diverser das Team, desto besser: Wenn es Reibung gibt, entsteht Innovation
Sie arbeiten oft an der Schnittstelle zwischen Journalismus, Technologie und Gesellschaft. Wie gelingt es Ihnen, diese Welten zusammenzubringen?
Leitner: Ich setze nicht auf Deutungshoheit, sondern auf Dialog. Ich glaube an Teams, die verschieden ticken. Je diverser die Perspektiven, desto spannender der Prozess. Ich spiele bis heute leidenschaftlich Improvisationstheater und genau das prägt mein Denken: zuhören, auf Impulse reagieren, gemeinsam etwas vorher Ungedachtes entstehen lassen. An Schnittstellen passiert das ständig, da entsteht positive Reibung, wenn etwa technische, journalistische und gesellschaftspolitische Logiken kollidieren.
Ihre Projekte reichen von Podcasts über KI-Prototypen bis hin zu transmedialen Formaten. Was ist Ihnen bei der Auswahl Ihrer Projekte wichtig?
Leitner: Ich suche Projekte, die Neuland betreten, thematisch, formal oder technisch. Nicht um der Innovation willen, sondern weil ich wissen will, welche neuen narrativen Möglichkeiten sich entwickeln lassen. Wichtig ist mir, dass diese Projekte immer auch Wissen generieren über Zielgruppen, Workflows, technische Limitationen. Die Projekte müssen also immer Informationen liefern für die strategische Ausrichtung der Häuser, für die ich tätig bin.
Gibt es ein Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt – und warum?
Leitner: #IchEisner war so ein Projekt. Gemeinsam mit Eva Deinert, Markus Malich und vielen anderen haben wir für den Bayerischen Rundfunk die Revolution von 1918/19 über Messenger Dienste wie WhatsApp erzählt. Vier Monate lang war das ein Live-Dialog aus der Perspektive von Kurt Eisner mit dem Publikum. Was mich daran begeistert hat, war nicht nur die historische Geschichte, sondern das Gefühl, dass Format und Inhalt eine neue Form von Nähe erzeugen können.
Das Projekt war sehr erfolgreich und hat uns viele neue Möglichkeiten eröffnet für das, was danach kam: etwa die VR-Dokumentation „München 72“ oder den KI-gestützten Krimi-Podcast „In 5 Tagen Mord – Die Krimi-Challenge mit KI“. Es war auch das erste Projekt, in dem wir konsequent prototypisch, nutzerzentriert und bis zur letzten Sekunde interaktiv und adaptiv gearbeitet haben.
Viele Ihrer Formate sind partizipativ oder interaktiv. Ist das die Zukunft des Storytellings?
Leitner: Ich glaube nicht an die Zukunft, sondern an verschiedene Zukünfte. Mich persönlich interessieren Formate, bei denen sich Zielgruppe, Thema und Technik gegenseitig beeinflussen. Ich selbst bin eher Lean-Forward als Lean-Back: Ich will in Beziehung treten zum Stoff, zum Medium, zum Publikum. Das gelingt manchmal über Interaktivität. Aber auch ein linearer Podcast, eine tolle Dokumentation oder eine Serie kann natürlich Resonanz erzeugen. Entscheidend ist immer: Berührt es? Verbindet es? Verändert es etwas?
Die Rolle von KI: Die Idee kommt vom Menschen, KI ist kritischer Assistent
Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz in Ihren Projekten – und wie verändert sie Ihre Arbeitsweise?
Leitner: Ich setze KI vor allem ein zum Strukturieren, Testen, Reflektieren. Sie ist mein kritischer Assistent. Am Anfang jedes Projektes steht bei mir immer eine menschliche Idee, eine Vision, die ich gemeinsam mit meinem Team formuliere. Und auch am Ende der kreativen Arbeitsschritte, bei der Auswahl, Kuration und Abnahme, entscheidet immer der Mensch. KI darf Haltung, Verantwortung oder Intuition nicht ersetzen. Für mich darf sie repetitive Arbeit machen und meine Arbeit hinterfragen, ehe das nochmal passiert, dann aber durch Testnutzer:innen.
Welche Entwicklungen in der Medienbranche beobachten Sie gerade mit besonderem Interesse?
Leitner: Die größte tektonische Verschiebung heißt natürlich KI. Sie verändert nicht nur Workflows, sondern Grundannahmen darüber, wie Inhalte entstehen und wer sie kontrolliert. Gleichzeitig beobachte ich einen Rückzug ins Vertraute: weniger radikale Innovationsprojekte, mehr Konsolidierung. Verständlich in Zeiten multipler Krisen, aber auch riskant. Wenn wir Innovation immer an Reichweitenziele koppeln, verlieren wir die Fähigkeit, längerfristig zu denken.Gerade jetzt brauchen wir Projekte, die nicht nur funktionieren, sondern formal, inhaltlich und gesellschaftlich herausfordern.
Wie kann Innovation in Medienhäusern wirklich gelingen?
Leitner: Zuerst: eine gemeinsame Sprache. Viele reden von Innovation, meinen aber Prozessoptimierung. Ich meine damit neue Inhalte, neue Erzählweisen, neue Zugänge.Zweitens: Vertrauen in prototypisches Arbeiten, Irrtümer inklusive. Innovation braucht das Recht auf Scheitern, um daraus zu lernen. Und drittens: Räume, in denen nicht jede Idee sofort skalierbar oder monetarisierbar sein muss. Wer Innovation nur am „return of invest“ misst, erstickt sie, bevor sie atmen kann. Ein gutes Innovationssystem stellt am Anfang mehr Fragen, als dass es Antworten liefert: Was wollen wir lernen? Welche Kompetenz fehlt uns? Und wie testen wir das schnell und sinnvoll? Hat das Zukunft?
Sie sind in Bayern verwurzelt, viele Ihrer Projekte entstehen hier. Was macht den Medienstandort Bayern für Sie besonders?
Leitner: Bayern bietet eine enorme kulturelle, technologische und institutionelle Dichte. Das schafft Nähe. Man begegnet sich, vernetzt sich, entwickelt gemeinsame Visionen. Ich arbeite in einem Umfeld, das lokal wie international vernetzt ist und disziplinübergreifend agiert. Ich spüre, dass das in Bayern auch in der DNA der Standortstrategie so angelegt ist. Und das ist ein echtes Asset, wenn man an Projekten arbeitet, die sich zwischen Storytelling, Technologie und gesellschaftlicher Relevanz bewegen.
Rasante Entwicklung: Die größte Herausforderung bei KI-Projekten ist Aktualität
Wenn Sie in die nächsten fünf bis zehn Jahre blicken: Wie wird sich die Medienlandschaft verändern?
Leitner: Kürzlich sagte ein Kollege im Rahmen einer Jurysitzung zu mir: „Man weiß gar nicht, ob dieses KI-Projekt in zwei Wochen noch aktuell ist.“ Der Kollege ist Professor für künstliche Intelligenz und wir waren gerade dabei, aktuelle publizistische KI-Projekte zu sichten. Auch für mich ist der Horizont in der technischen Entwicklung schlicht nicht absehbar. Wenn ich mir aber etwas wünschen dürfte, dann wünsche ich mir Medien, die gesellschaftliche Resilienz fördern. Die nicht nur erklären, sondern verbinden, und in denen der Mensch als fühlendes, denkendes Wesen immer im Zentrum steht.
Was raten Sie jungen Medienmacher:innen, die heute mit dem Wunsch starten, die Medienwelt mitzugestalten?
Leitner: Probiert euch aus. Macht Playtests im Arbeitsleben. Ihr solltet einen Plan haben, aber nicht alles muss nach Plan laufen. Viele meiner wichtigsten Schritte waren spontane Ja-Momente: zum Uniradio, zum Moderationscasting, rein in ein studentisches Filmprojekt mit anschließender Firmengründung. Diese Ja-Momente haben mir Chancen eröffnet und mir Stück für Stück gezeigt, wer ich bin, oder eben auch nicht. Mein Rat also: testet Branchen und Arbeitsumfelder. Findet heraus, was euch fachlich, menschlich, im Arbeitsrhythmus entspricht. Definiert euch nicht zu früh über das, was ihr heute seid. Der Mensch ist veränderbar durch neue Erfahrungen und das ist gut so.
Bannerbild: BR/Lisa Hinder








