Uli Köppen im Interview: „Wir sind ein Labor für neue Methoden und Formen der Zusammenarbeit“

Von Julia Hägele

Uli Köppen leitet das AI + Automation Lab beim Bayerischen Rundfunk. © Lisa Hinder

Uli Köppen leitet das AI + Automation Lab im Bayerischen Rundfunk und co-leitet BR Data, die Daten-Einheit des Bayerischen Rundfunks. Sie findet, die Diskussion um den verantwortungsvollen Einsatz von Algorithmen hat gerade erst begonnen.

Sie haben Anfang 2020 das AI + Automation Lab im BR gegründet, jetzt ist über ein Jahr um: Gibt es ein Zwischenfazit?

Uli Köppen: Ab und zu war es im Corona-Jahr eine ziemliche Herausforderung, ein neues Team auf die Beine zu stellen, aber es funktioniert gut. Wir sind ein Labor für neue Methoden und neue Formen der Zusammenarbeit. Das bedeutet, wir arbeiten mit drei Teams sehr eng zusammen: dem Rechercheteam, dem Datenteam und dem neuen AI + Automation Lab. Unser Modell ist dem der Washington Post nachempfunden: Für Projekte und Produkte ziehen wir die richtigen Leute zusammen, die Grenzen zwischen den Teams sollen fließend sein.

Kann man sich diese Innovation als Insel im BR vorstellen oder färbt das auf das ganze Unternehmen ab?

Köppen: Was wir lernen, versuchen wir in die Strategie des BR einzubringen. Wir glauben, dass eine fließende und themenbezogene Zusammenarbeit die größte Flexibilität für den BR bringt. Ein Beispiel: Eine Datenjournalistin, die zuvor bei uns im Team war, arbeitet jetzt embedded am allgemeinen BR Newsdesk. Sie macht die tagesaktuellen Datengeschichten, kann sich aber immer bei uns rückversichern. Expertenwissen kann man so gut im Haus verteilen.

Wer arbeitet bei Ihnen im Team?

Köppen: Journalist:innen, Informatiker:innen, Programmierer:innen und Produktentwickler:innen arbeiten bei uns im Team. Außerdem Machine Learning-Expert:innen, die halb an der Uni und halb bei uns arbeiten.

Gerade in diesem Innovationsfeld, in dem wir unterwegs sind, ist Austausch extrem wichtig.“

2019 haben Sie ein Jahr als Nieman Fellow in Harvard und am MIT verbracht. Von welchen Ideen aus dieser Zeit profitieren Sie jetzt noch?

Köppen: Meine Zeit in Harvard war extrem vielfältig, unter anderem konnte ich mich mit Automatisierung über verschiedene Industrien hinweg beschäftigen. Der zweite Schwerpunkt war Algorithmic Accountability Reporting, gemeint ist das Recherchieren zu Algorithmen. Außerdem konnte ich zu interdisziplinärem Newsroom Management forschen. Jetzt bin ich in der schönen Situation, alle drei Themen im BR einbringen zu können.

Beim Nieman Fellowship kann üblicherweise nur eine Person aus einem Land teilnehmen. Haben Sie so gute Kontakte geknüpft?

Köppen: Ja, das war ein wichtiger Teil des Fellowships. Und gerade in diesem Innovationsfeld, in dem wir unterwegs sind, ist Austausch extrem wichtig. Da ist es großartig, wenn man jederzeit Leute aus verschiedenen Kulturen und Kontexten fragen kann: Wie macht ihr das eigentlich? Im Lab sind wir außerdem in einer internationalen Kollaboration mit der London School of Economics. Über 20 Medienhäuser weltweit nehmen teil und arbeiten gemeinsam an AI-Lösungen für den Journalismus. Das ist ein toller Austausch-Pool.

Wir müssen als Gesellschaft diskutieren, wo wir Algorithmen einsetzen wollen und wo nicht. Und auch, wie wir sie einsetzen wollen.“

Woran arbeiten Sie langfristig im AI + Automation Lab?

Köppen: Wir arbeiten an zwei großen Fragen: Wie können wir unsere Workflows und Prozesse verbessern? Und welche journalistischen Produkte können wir basierend auf diesen Workflows entwickeln? Außerdem laufen parallel investigative Recherchen zu Algorithmen und Daten, die meist mittel- bis langfristig sind.

Haben Sie Beispiele?

Köppen: Bezüglich des Workflows haben wir uns letztes Jahr gemeinsam mit der Sportredaktion automatisierten Text vorgenommen. Das hilft den Kollegen bei der Basketball-Berichterstattung. Ein beliebtes Produkt ist unser Corona-Newsletter mit den aktuellen Zahlen des Robert Koch-Instituts. Und die Veröffentlichung „Hassmaschine“ ist ein Beispiel für eine Recherche zum Algorithmus von Facebook, wo teilweise jahrelang Hate Speech in privaten Gruppen auf der Plattform geduldet wurde. Die Recherche ist eine Kooperation von allen drei Teams zusammen mit NDR und WDR.  

Warum ist die Berichterstattung über Algorithmen so wichtig?

Köppen: Das Thema ist wichtig, weil wir als Gesellschaft diskutieren müssen, wo wir Algorithmen einsetzen wollen und wo nicht. Und auch, wie wir sie einsetzen wollen. Ein Beispiel ist unsere Schufa-Recherche: Der Schufa-Algorithmus trägt dazu bei, dass unser Wirtschaftssystem funktioniert. Aber die Frage ist: Wäre es nicht gut, wenn wir besser verstehen könnten, wie er funktioniert? Es gibt das Geschäftsgeheimnis, aber Bürgerinnen und Bürger haben auch ein Recht, zu erfahren, wie ihr Eintrag zustande kommt. Das richtige Maß zu finden mit Blick auf Bürgerrechte ist eine große Aufgabe, die noch nicht vollbracht ist.

Wie kann man diese Aufgabe vollbringen?

Köppen: Ich finde, das muss in einer breiten gesellschaftlichen und auch politischen Diskussion stattfinden. Es ist die Rolle des Journalismus, diese Diskussion am Laufen zu halten und auf Missstände hinzuweisen. Mit unserer Arbeit wollen wir das vermeintlich Geheimnisvolle aus Algorithmen nehmen. Wir wollen investigativ dazu recherchieren und darauf hinweisen, wenn Algorithmen an falscher Stelle eingesetzt werden und unter Umständen das Wohl der Bürgerinnen und Bürger gefährden.

Datenarbeit gehört mittlerweile in vielen Medienhäusern zum Butter- und Brotgeschäft des Newsrooms.“

Wenn man sich umschaut, werden in den großen Medienhäusern Stellen tendenziell eher abgebaut als aufgebaut. Täuscht der Eindruck, oder ist das im Datenjournalismus ganz anders?

Köppen: Ich habe den Eindruck, dass aus vielfältigen Gründen in den Daten und AI-Bereich investiert wird: Datenarbeit gehört mittlerweile in vielen Medienhäusern zum Butter- und Brotgeschäft des Newsrooms. Manchmal werden auch investigative Teams mit Datenjournalismus verbunden, wie bei uns. Außerdem können AI- und Daten-Prozesse dabei helfen, zukunftsfähige Infrastruktur aufzubauen.

Was sind herausragende Recherchen zu Algorithmen, die Sie inspirieren?

Köppen: Da gibt es viele: ProPublica hat mit seiner Machine Bias-Recherche früh angefangen, die Neutralität von Algorithmen zu hinterfragen. Aus einem Teil des Teams ist The Markup entstanden, ein Newsroom, der die Auswirkungen von Technologie auf die Gesellschaft mit investigativen Methoden untersucht. Think Tanks wie das AI Now Institute oder Stiftungen wie die Bertelsmann Stiftung leisten in diesem Bereich auch tolle Arbeit.

Was ist Ihr Herzensthema?

Köppen: Der englische Ausdruck „future-proofing the newsroom“ fasst es gut zusammen. Außerdem entdecke ich immer mehr Erkenntnisse im Zusammenspiel zwischen unserem Lab und der strategischen Arbeit – denn viele unserer Themen müssen langfristig begleitet werden, um ihre volle Wirkung für ein Medienhaus entfalten zu können. Das, was wir von unseren Prototypen lernen, soll wieder in die Strategie einfließen. Ein Beispiel: Wenn wir über personalisierte News-Feeds nachdenken, muss man sich auch über neue Tagging-Systeme und Cloud-Infrastruktur Gedanken machen. Und plötzlich sind sehr viele Bereiche in einem Unternehmen davon betroffen. Das geht nur mit einer langfristigen Strategie.

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